Generationen-Gespräch im Ukrainekrieg: Als Oma Baumrinde knabbern musste
Die Erinnerungen von Großeltern aus der Zeit des Weltkriegs sind brandaktuell. Unsere Autorin fände schöner, wenn sie Märchen vorlesen würden.
Und wenn es gar nichts mehr zu essen gab, haben wir Baumrinde abgerissen und daran geknabbert.“ Kürzlich wurde ich Ohrenzeugin eines Gespräches meiner Oma mit meinen Kindern. Es war der dritte Kriegstag. „Oma Tasja, was erzählst du da?“, schrie ich. „Was sind das für schreckliche Geschichten?“ Es waren die Erfahrungen meiner Großmutter. So haben sie die Zeit des Holodomor – der großen Hungersnot von 1931/32 in der Sowjetukraine – und des Zweiten Weltkriegs überlebt.
ist Chefredakteurin des ukrainischen Nachrichtendienstes USI.online. Sie ist Mutter von zwei Kinder (9 und 12).
In Oma Tasjas Familie waren sie neun Kinder. Sie gehört zu denen, die noch Jahrzehnte später die Krümel vom Tisch aufgesammelt hat und bei jedem Festessen sagte: „Hauptsache, es gibt keinen Krieg.“ Tasja wurde in der russischen Stadt Jaroslawl geboren. Es war für sie schwer zu verstehen, dass der Ukraine – ihrer zweiten Heimat – von Russland der Krieg erklärt wurde.
Als meine Oma ihren Urenkeln ihre Geschichte erzählte, wollte sie sie schützen, ihnen von unvorstellbaren und schrecklichen Erfahrungen erzählen, die sie selber als Kind gemacht hatte. Im Zimmer saß auch die andere Urgroßmutter meiner Kinder. Oma Katja ist im gleichen Alter wie Tasja, beide sind um die 90 Jahre. Oma Katja hat lange in Belarus gelebt. Den Menschen ihrer Generation fällt es schwer, zu akzeptieren, dass Russland die Ukraine angegriffen hat.
Чтобы как можно больше людей смогли прочитать о последствиях войны в Украине, taz также опубликовал этот текст на русском языке: here.
Unser Luftschutzraum befindet sich im Keller. Immer, wenn Luftalarm ist, musste man beide Großmütter hinuntertragen. Nach der ersten Kriegswoche haben wir entschieden, sie ins benachbarte Rumänien ins Krankenhaus zu bringen. „Wie jetzt? Ich bin vor den Russen zu den Rumänen geflüchtet?“ fragte Oma Katja. Sie hat die Blockade von Odessa im Zweiten Weltkrieg miterlebt. In unserer Stadt haben damals rumänische Einheiten die Stadt besetzt. Und jetzt pflegen Rumänen sie im Krankenhaus, flüchten muss sie jetzt vor den Russen.
In den ersten Kriegstagen, machte ein schrecklicher Satz die Runde: „Wie gut, dass meine Großmutter das nicht mehr erleben muss“. Ich verstehe, was die Leute meinen. Ich bin froh, dass meine Kinder ihre Urgroßmütter kennen. Schöner wäre, wenn sie meinen Kindern Märchen vorlesen würden, statt ihnen zu erzählen, wie man im Krieg überlebt.
Aus dem Russischen Gaby Coldewey.
Das Tagebuch „Krieg und Frieden“ wird finanziert durch die taz Panter Stiftung.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Pelicot-Prozess und Rape Culture
Der Vergewaltiger sind wir
Rechtsextreme Demo in Friedrichshain
Antifa, da geht noch was
Trendvokabel 2024
Gelebte Demutkratie
Umwälzungen in Syrien
Aufstieg und Fall der Familie Assad
Studie Paritätischer Wohlfahrtsverband
Wohnst du noch oder verarmst du schon?
Ex-Wirtschaftsweiser Peter Bofinger
„Das deutsche Geschäftsmodell funktioniert nicht mehr“