Grünen-Politiker zu Arzneimittelmangel: „Müssen im Notfallmodus reagieren“
Was tun gegen den Engpass bei Fiebersaft und Co.? Der grüne Gesundheitsexperte Janosch Dahmen stellt eine schnelle Krisenhilfe der Ampel in Aussicht.
taz: Herr Dahmen, Fiebersäfte sind in vielen Apotheken nicht mehr verfügbar, andere Medikamente sind ebenso knapp. Eine Krise mit Ansage?
Janosch Dahmen: Aktuell erleben wir im Bereich der Arzneimittelversorgung einen wirklich empfindlichen Engpass. Dieser hat sich nach dem Ausfall wichtiger Lieferungen von Fiebersäften und anderen Antiinfektiva wie Antibiotika in den letzten Wochen abgezeichnet. Hinzu kommt, dass die Gleichzeitigkeit mehrerer Atemwegserkrankungen und der Wegfall von anderen Schutzmaßnahmen zu einer Infektionsdynamik geführt hat, die aktuell über 10 Millionen Menschen in Deutschland hat krank werden lassen – alle überwiegend mit akuten Erkrankungen, die auf die Versorgung mit diesen, zumindest im Bereich der Kinderdosierung knappen Medikamenten angewiesen sind. Und wir erleben nun, dass diese starke Nachfrage einerseits und die hohe Abhängigkeit und Labilität von Lieferketten andererseits uns sehr vulnerabel macht.
Es gibt also mehr Krankheiten. Zugleich ist der Engpass an Medikamenten regional sehr unterschiedlich.
Neben der gestiegenen Nachfrage und der geringeren Liefermenge haben wir auch ein Verteilungsproblem. Es ist – nachdem bekannt wurde, dass es vermutlich Lieferengpässe in der Herbst-/Wintersaison geben wird – bereits im Sommer dazu gekommen, dass regional sowohl vom Großhandel als auch einzelnen Apotheken vermehrt zum Beispiel Ibuprofen-Fiebersäfte und auch Paracetamol-Fieberzäpfchen aufgekauft wurden. In Deutschland erleben wir jetzt, dass es Regionen gibt, wo Apotheken flächendeckend gar nichts mehr liefern können, während es an anderen wenigen Standorten zurzeit noch Reserven gibt. Es wäre deshalb dringend geboten, dass wir jetzt wie immer dann, wenn etwas knapp wird, diese knappen Ressourcen zentral steuern und koordinieren.
41, ist gesundheitspolitischer Sprecher der Grünen-Fraktion im Bundestag. Er ist Unfallchirurg und Notfallmediziner und war Oberarzt für die Ärztliche Leitung des Rettungsdienstes bei der Berliner Feuerwehr.
Kinderärzte fordern, dass sofort staatlich eingeschritten wird, um den derzeitigen Mangel zu beheben. Lässt sich akut ein Verteilungsmodus anschieben?
Wir brauchen ein Krisenmanagement, das jetzt die akute Situation in den Blick nimmt und sicherstellt, dass knappe Medikamente bestmöglich verteilt werden. Wir müssen einerseits kurzfristig nach Möglichkeiten suchen, durch zusätzlichen Ankauf und Nachschub aus dem Ausland die Versorgung zu verbessern. Gleichzeitig müssen wir ermöglichen, dass in den Apotheken lokal Wirkstoffe schnell und unbürokratisch aufbereitet werden können. Dafür brauchen wir entsprechende rechtliche Voraussetzungen, so dass dies bei zurzeit nicht anders verfügbaren Arzneimitteln kurzfristig den Apotheken erlaubt und den Patienten ohne ein neues Rezept ermöglicht werden kann.
Und was plant die Ampel, der sie als Grünen-Politiker angehören?
Wir sind in der Vorbereitung sowohl für umfangreiche Reformen, die in den letzten Jahren liegen geblieben sind, als auch von kurzfristig auf die Krise ausgerichteten Maßnahmen. Der Gesundheitsminister wird schon in den nächsten Tagen konkrete Gesetzgebungsvorschläge und weitere Maßnahmen dazu vorstellen.
Was halten Sie von einer gemeinsamen Kraftanstrengung in der EU zur Medikamentenbeschaffung ähnlich wie zur Beschaffung von Impfstoffen zu Pandemie-Hochzeiten?
Die Solidarität in der Sicherstellung von Gesundheitsversorgung, einschließlich der Sicherstellung von Produktionskapazitäten bei der Versorgung mit wichtigen Arzneimitteln, ist immer auch eine europäische gemeinsame Aufgabe. Anders als bei der rein europäischen Beschaffung von Impfstoffen, ist eine Gleichzeitigkeit von europäischer Abstimmung und spezifischen, auf die Situation in Deutschland ausgerichteten Maßnahmen jedoch in diesem Fall geboten.
Angesichts der Mangellage werden Forderungen laut, die Produktion von Medikamenten verstärkt in Deutschland anzusiedeln. Machbar?
In den vergangenen Jahren haben wir im Bereich patentierter neuer Medikamente eine rasante Preisentwicklung hin zu immer teureren Arzneimittelpreisen erlebt. Gleichzeitig haben wir bei den sehr einfachen Medikamenten, die als Generika ohne ein Patent in der Regel günstig produziert werden, einen immer stärkeren Preisdruck auf die Hersteller erlebt. Es ist kaum mehr wirtschaftlich, auch bei gestiegenen Preisen, diese einfachen Medikamente zu produzieren. Das hat dazu geführt, dass selbst dort, wo es noch Produktionsstätten in Deutschland oder Europa gab, diese immer mehr in andere Länder verlagert wurden. Um diesen Entwicklungen gegenzusteuern, wird die Koalition dazu in Kürze einen Gesetzentwurf vorlegen. Das soll beispielsweise den Krankenkassen erlauben, nicht immer nur die billigsten Medikamente zu bezahlen, sondern künftig auch wirtschaftliche Alternativen mit zu erstatten.
Das heißt, es wird mittelfristig teurer für die Beitragszahler:innen?
Wie in anderen Bereichen des Gesundheitswesens, haben wir es auch bei der Arzneimittelversorgung in der Vergangenheit übertrieben mit der Ökonomie. Ich gehe davon aus: Wenn man Medikamente wie die, die uns im Moment fehlen, in Deutschland und Europa produziert, dann wird das mehr kosten als in anderen Teilen der Welt, wo derzeit produziert wird. Da wir ein Interesse daran haben müssen, eine verlässliche Versorgung mit existenziellen Medikamenten auch künftig zu sichern, kommen wir nicht umhin, dass wir über die gesetzliche Krankenversicherung auch höhere Preise im Bereich der Generika im Einzelfall in Kauf nehmen müssen.
Wir haben einen Mangel an Medikamenten, eine verschärfte Situation an den Kliniken, überall fehlt Personal. Müssen wir uns auf ein Gesundheitssystem im Dauerkrisenmodus einstellen?
Wir erleben zurzeit die Gleichzeitigkeit eines jahrelangen Reformstaus, eines erheblichen Fachkräftemangel und das Auftreten mehrerer gleichzeitiger Atemwegserreger. Diese Kombination von Belastungen wird dazu führen, dass unser ohnehin überlastetes Gesundheitswesen in eine weiterhin schwierige Situation gerät. Es bedarf deshalb wichtiger, umfassender Reformen. Dazu gehören die Krankenhausstrukturreform, die Digitalisierung im Gesundheitswesen, aber auch Reformen, um mehr Pflegepersonal zu bekommen. Bis die Reformen wirken, müssen wir in akuten Krisen mit einem Notfallmodus reagieren. Das bedeutet insbesondere, mit den knappen Gütern so zu haushalten, damit wir bestmöglich durch diese schwere Zeit kommen, bis die Reformen zu wirken beginnen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Utøya-Attentäter vor Gericht
Breivik beantragt Entlassung
Umgang mit der AfD
Sollen wir AfD-Stimmen im Blatt wiedergeben?
Böllerverbot für Mensch und Tier
Verbände gegen KrachZischBumm
Pistorius lässt Scholz den Vortritt
Der beschädigte Kandidat
Warnung vor „bestimmten Quartieren“
Eine alarmistische Debatte in Berlin
Haftbefehl gegen Netanjahu
Begründeter Verdacht für Kriegsverbrechen