Großdemo in Berlin gegen Regime in Iran: „Weg, weg, weg, Mullah muss weg“
Fast 100.000 Menschen zeigten in Berlin ihre Solidarität mit der iranischen Protestbewegung. Viele Teilnehmende reisten aus dem Ausland an.
„Ich hoffe, dass die Welt jetzt das wahre Gesicht der iranischen Regierung erkennt“, sagt Sahar, die 2015 nach Deutschland kam. Wie die meisten der Demonstrant:innen hier möchte sie ihren Nachnamen nicht in der Zeitung lesen, aus Angst, das Regime könnte ihre Verwandten im Iran bedrohen. Dass so viele Menschen aus der Community geeint zusammenkommen, sei für sie ein sehr emotionaler Moment, berichtet die Anfang-20-Jährige mit zitternder Stimme.
Enttäuscht ist Sahar bisher von der Reaktion der westlichen Staaten auf die Proteste im Iran. „Es muss deutlich mehr Konsequenzen gegen die Regierung geben“, fordert sie, „die Politiker sind bisher nur auf ihre Profite bedacht“. Neben einem sofortigen Ende der Verhandlungen über das Atomabkommen fordert sie auch eine Ausweisung aller iranischen Botschafter.
Feuerwerk gibt den Startschuss
Viele, die an diesem Samstag nach Berlin gekommen sind, haben einen persönlichen Bezug zu den Ereignissen im Iran. Die Brutalität, mit der die iranische Regierung gegen die Protestierenden vorgeht, ist eine reale Gefahr für die Verwandten und Freunde, die im Heimatland für ihre Freiheit kämpfen. „Mein Bruder wurde vorgestern getötet“, berichtet Teilnehmerin Sara erstaunlich gefasst. Er sei erst 25 Jahre alt gewesen und habe vor kurzem sein Ingenieurs-Studium beendet, als er von den Sicherheitskräften bei einer Demo erschossen wurde, erzählt Sara. Die 34-Jährige musste selbst vor über drei Jahren aus ihrer Heimat fliehen, weil sie zum Christentum konvertiert ist. Grund genug für ein Todesurteil in dem Gottesstaat.
Pünktlich um 15 Uhr gibt ein Feuerwerk den Startschuss. Der Zug setzt sich nur schleppend in Bewegung, so viele Menschen sind es. Fast ununterbrochen skandieren die Teilnehmer:innen „Azadi“, persisch für Freiheit, „Nieder mit der Diktatur“ oder „Weg, weg, weg, Mullah muss weg“. Viele schwenken die alte Nationalflagge mit dem Löwenemblems der gestürzten Königsdynastie, die nach der islamischen Revolution 1979 abgeschafft wurde. Andere halten Portraits von Jina Amini in die Höhe, deren Ermordung durch die Moralpolizei Ende September die landesweite Protestwelle im Iran erst ausgelöst hat.
Auch die kurdische Community ist anhand zahlreicher Flaggen deutlich erkennbar vertreten. Tausende, nicht nur iranische Kurd:innen seien heute hier, sagt Ali Toprak, Vorsitzender der kurdischen Gemeinde Deutschland, auf der Demo. „Der Widerstand ist in den kurdischen Gebieten am stärksten, aber auch die Repression gegen die Kurden ist am heftigsten“, erklärt er. „Jina Amini wurde verhaftet, weil sie Kurdin war“.
Europaweiter Aufruf – und Anreisen auch aus Kanada
Ein Grund dafür, das die Teilnehmer:innenzahl die angemeldeten 50.000 noch deutlich übertroffen hat, ist, dass europaweit für die Demonstration in Berlin mobilisiert wurde. „Für uns, die außerhalb des Irans leben, ist es eine Verantwortung, heute hier zu sein“, sagt Navid, der eigentlich anders heißt, der taz. Der 21-Jährige arbeitet in einer Tech-Firma in den Niederlanden. 10 Stunden sei er nur für diesen Anlass mit dem Bus angereist. Navid berichtet, wie innerhalb der Community Geld gesammelt wurde, um Busse zu chartern und Tickets zu finanzieren.
Aufgerufen hatte auch der kanadisch-iranische Aktivist Hamed Esmaeilion, der aus Kanada angereist ist. Unter Exil-Iraner:innen sind Esmaeilion und seine Gruppe „Iranians for Justice and Human Rights“ weltweit bekannt.
Als die Spitze der Demonstration nach ihrer Runde um den Tiergarten auf der Straße des 17. Juni zurück zur Siegessäule zieht, sind am Ende noch nicht einmal alle Anwesenden gestartet. Auf der Abschlusskundgebung fordert Esmaeilion in einer der wenigen englischen Reden an diesem Abend. „Welt, schaut auf die Revolution im Iran. Es ist die progressivste Revolution im nahen Osten!“
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Debatte um SPD-Kanzlerkandidatur
Schwielowsee an der Copacabana
BSW und „Freie Sachsen“
Görlitzer Querfront gemeinsam für Putin
Urteil nach Tötung eines Geflüchteten
Gericht findet mal wieder keine Beweise für Rassismus
Papst äußert sich zu Gaza
Scharfe Worte aus Rom
Waffen für die Ukraine
Bidens Taktik, Scholz’ Chance
Unterwanderung der Bauernproteste
Alles, was rechts ist