Griechischer Politiker Varoufakis zu Wahlen: „Wir Linken zerfleischen uns“
Der kleinste gemeinsame Nenner der Wahlen in Bremen und Griechenland? Der griechische Ex-Finanzminister Yanis Varoufakis und seine paneuropäische Partei.
taz: Herr Varoufakis, der deutsche Flügel Ihrer paneuropäischen Partei Bewegung Demokratie in Europa (DiEM25) tritt in Bremen am 14. Mai zur Bürgerschaftswahl an. In Deutschland erreichte die Partei bei der Europawahl 2019 nur 0,3 Prozent. War das eine Enttäuschung für Sie?
Yanis Varoufakis: Überhaupt nicht. Denn diese Wahl war der Grundstein für die Gründung des Parteiflügels MeRA25 in Deutschland. EU-weit haben wir 1,5 Millionen Stimmen erhalten, unser Ziel, ins Europaparlament einzuziehen, aber verfehlt.
Sind die Deutschen schon so weit, einem griechischen Ex-Finanzminister im eigenen Land eine Chance zu geben?
So denkt nicht nur der deutsche Wähler, das ist überall in Europa noch so. Wir fordern einen europaweiten Wahlzettel mit Kandidaten aus allen Ländern. Das sollte in einer europäischen Demokratie doch möglich sein. MeRA25 kämpft für radikalen Wandel. Lokal ist vor allem Klimasolidarität wichtig, denn Bremen liegt an der Küste. Wir wollen die entscheidende Infrastruktur in Bürger:innenhand bringen und die Energieversorgung in Bremen vergesellschaften. Außerdem wollen wir eine öffentliche Jobgarantie einführen, damit wir die nötige Transformation sofort beginnen und gestalten können.
ist 62 und war von Januar bis Juli 2015 Finanzminister in der Regierung von Alexis Tsipras. Der Ökonom war überzeugter Gegner des Spardiktats, das Griechenland im Rahmen der Eurokrise auferlegt wurde. Nach seinem Ausstieg gründete er die paneuropäische DiEM25.
Im Februar 2016 hatten Sie DiEM25 – eine „gesamteuropäische, fortschrittliche Bewegung, die EU demokratisieren will, bevor sie sich selbst auflöst“ – in der Volksbühne in Berlin vorgestellt. Weshalb gerade dort?
Die Volksbühne hat historisch eine Symbolkraft für die Arbeiterbewegung. Wir wollten zeigen: Die Eurokrise ist kein Konflikt zwischen dem Norden und dem Süden, sondern zwischen der Oligarchie und den Völkern Europas. DiEM25 ist eine Bewegung von Pro-Europäern, die es nicht weiter akzeptieren, dass Europas Mächtige den Kontinent zerstören.
Wie hat sich DiEM25 entwickelt?
Wir haben rund 130.000 Mitglieder. Das ist nicht viel. Es müssten viel mehr sein. Wir sind in der ganzen EU präsent, aber auch darüber hinaus. Wir haben Basisgruppen in Israel, wo Juden und Palästinenser gemeinsam wirken, in Serbien, in der Türkei, in Großbritannien.
Wahlen Am 14. Mai wählt Bremen eine neue Bürgerschaft. Auch in Griechenland finden am 21. Mai die Parlamentswahlen statt.
Organisation Bei beiden Wahlen tritt die von Yanis Varoufakis gegründete paneuropäische Bewegung Demokratie in Europa 2015 (DiEM25) an. Um für Wahlen in den einzelnen EU-Ländern kandidieren zu können, musste DiEM25 lokale Parteien ausgründen. Diese werden intern Wahlflügel genannt, der Name des griechischen ist MeRA25, der des deutschen MERA25. In Bremen sitzt der bisher einzige Landesverband des deutschen Wahlflügels. (taz)
Vor der Gründung von DiEM25 waren Sie Teil der damaligen Regierung von Alexis Tsipras. Dieser Tage schrieb die Frankfurter Allgemeine Zeitung, Ihr ehemaliger Parteifreund vom Bündnis der Radikalen Linken (Syriza) habe Sie im Sommer 2015 „als Finanzminister gefeuert“, hernach seien Sie „für die Resteuropäer von der Bildfläche verschwunden“. Haben Sie etwas geradezurücken?
Das ist eine Verdrehung der Wahrheit. Wir haben uns freundschaftlich getrennt.
Was meinen Sie damit?
Am Abend des 5. Juli 2015, unmittelbar nach Bekanntgabe der Ergebnisse des Referendums (Bei dem die Griechinnen und Griechen eine Fortsetzung des Spardiktats Athens auf Geheiß seiner öffentlichen Kreditgeber EU, EZB und IWF ablehnten, Anm. d. Red.) teilte mir der damalige Regierungschef Alexis Tsipras lapidar mit, er werde aus dem „Nein“ ein „Ja“ machen – also kapitulieren. Ich habe ihm erwidert: „Alexis, ich werde dir nicht folgen.“
Sie sind zurückgetreten.
Hätte ich wie die übrigen Regierungsmitglieder diese Kapitulation unterzeichnet, wäre ich wohl in der Regierung verblieben. Tsipras bot mir sogar an, trotz meines Neins darin zu bleiben. Ich habe ihm geantwortet: „Ich will nicht in einer Regierung sitzen, die kapituliert.“ Die Sache ist simpel: Tsipras hatte mit unserer Linie gebrochen, und ich bin ihm nicht gefolgt.
Es hat Ihnen nicht geschadet: Bei den letzten Parlamentswahlen in Griechenland haben Sie mit MeRA25 auf Anhieb den Sprung über die Drei-Prozent-Hürde geschafft. Nun treten Sie bei der Neuwahl in Griechenland am 21. Mai erneut an. Was ist Ihr Ziel?
Wir wollen regieren.
Regieren oder mitregieren?
Regieren. Man muss dem Wähler in die Augen schauen und sagen: „Wenn ich Premier bin, werde ich dies und das tun.“ Damit er seine Optionen vergleichen kann.
Seit knapp vier Jahren regiert der Konservative Kyriakos Mitsotakis alleine in Athen. Eine gute Zeit für Griechenland?
Eine unerfreuliche Tragödie, in allen Bereichen. Die griechische Staatsschuld hat sich unter Mitsotakis um rund 50 Milliarden Euro erhöht, die Wirtschaftsleistung verharrt auf dem Niveau von 2019. Das hat den Staatsbankrott Griechenlands vertieft. Die Pressefreiheit, die Meinungsfreiheit sind eingeschränkt. Mitsotakis setzt auch auf Fremdenfeindlichkeit und Rassismus: Schauen Sie auf den Grenzzaun, diese Mauer der Schande, an der Grenze zur Türkei. Oder die Pushbacks in der Ägäis. Das passiert so oft, dass man getrost von einer vorsätzlichen Ermordung unserer Mitmenschen sprechen kann, die hilflos im Mittelmeer ertrinken. Das tut Mitsotakis nur, um die Rechtsradikalen zu umgarnen. Wir als Europäer können nicht einen Trump mit Häme und Spott überziehen und hier im gleichen Moment einen Mitsotakis feiern.
Ist das nicht überspitzt?
Überhaupt nicht. In der Migrationsfrage ist Mitsotakis wie Trump. Er hat zudem den Geheimdienst unter seine direkte Kontrolle gebracht und ihn dafür benutzt, Politiker, sogar seine Minister, Journalisten oder Militärangehörige abzuhören. In anderen Ländern Europas hätte ihn alleine das sein Amt gekostet.
Können Sie auch einen positiven Beitrag nennen?
Die Digitalisierung des Staates. Aber die wichtigsten Daten eines Staates sind die seiner Steuerverwaltung. Wir haben auf Druck der Troika (Griechenlands Gläubiger: EU, EZB und IWF, Anm. d. Red.) eine sogenannte „unabhängige Steuerbehörde.“ Sie ist aber nicht unabhängig, die Troika kontrolliert sie.
Tsipras hatte stets betont, eine Koalition „aller fortschrittlichen Kräfte“ anstreben zu wollen. Nun hat er Sie und MeRA25 kurz vor dem Urnengang als möglichen Koalitionspartner ausgeschlossen. Was sagen Sie zur Haltung von Tsipras?
Tsipras wollte von Anfang an nur mit der sozialdemokratischen Pasok koalieren. Nun wird klar, dass MeRA25 es abermals ins Parlament schafft. Beide Parteien, Mitsotakis’ Nea Dimokratia (ND) und Tsipras’ Syriza, sind in Panik geraten, aus unterschiedlichen Gründen. Ist MeRA25 wieder im Parlament, wird es für die ND schwieriger, alleine weiterzuregieren. Syriza wiederum müsste mit uns sprechen.
Hat Tsipras etwas persönlich gegen Sie? Sprechen Sie noch miteinander?
Nein, das tun wir nicht – was sollen wir uns sagen? Ich nehme das aber nicht persönlich. Tsipras’ Problem mit mir ist, dass ich der einzige griechische Finanzminister war, der alle Gesetzespakete zu Sparauflagen sorgfältig gelesen und keines davon unterschrieben hat.
Der griechische Oligarch Giannis Alafouzos, Reeder und Besitzer des regierungsnahen Senders Skai TV, hat Ihren Abgeordneten Kleon Grigoriadis angezeigt. Dieser hatte im Parlament kritisiert, Alafouzos’ Flotte transportiere Medienberichten zufolge russisches Erdöl und lasse zugleich über SkaiKommentatoren angebliche Putin-Freunde in Griechenland beschimpfen. Darüber hatte auch die taz berichtet.
Wir verurteilen Putins Überfall auf die Ukraine aufs Schärfste, wollen aber auch keine Kriegseskalation. Ich habe seit 2015 so viel gehört, dass mich das nicht mehr aufregen kann, da sind solche Aktionen wie von Alafouzos eine Kinderspielstunde am Nachmittag.
Apropos Eskalation: Auf Druck der USA und Deutschlands könnte es bald ein Abkommen zwischen Griechenland und dem Erzfeind Türkei geben, ein „Ägäis-Abkommen“, zur Schlichtung des Streits um die Seegrenzen.
Mit der Türkei sollte es keine bilateralen Gespräche geben. Stattdessen sind wir für eine regionale Konferenz mit den Anrainerstaaten des Mittelmeers, etwa Libanon, Israel, Palästina, Libyen und Zypern. Auf einer Karte kann jeder seine Wünsche bezüglich der Seegrenzen aufzeichnen. Diese soll dann dem Internationalen Gerichtshof in Den Haag zur Entscheidung vorgelegt werden. So gäbe es für alle bindende Seegrenzen.
Auch um eine Landesgrenze gibt es Konflikte: Zypern ist nach der türkischen Invasion im Inselnorden seit fast 50 Jahren de facto geteilt. Die Türkei fordert eine Zwei-Staaten-Lösung. Die Republik Zypern, ein EU-Mitglied, hingegen einen Staat. Und Sie?
Wir wollen einen Staat Zypern. So wie sich das auch unsere türkisch-zypriotischen Genossen im Norden der Insel wünschen. Sie leiden am meisten unter der Teilung der Insel. Sie sind doppelt Opfer: der Teilung und der Besatzung durch das türkische Militär.
Im östlichen Mittelmeer sollen sich große Erdgas- und Erdölvorkommen befinden. Das führt immer wieder zu Spannungen zwischen Athen und Ankara, im Sommer 2020 fast zum Krieg. Sollten diese Vorkommen ausgebeutet werden? Mit der Türkei?
Wir sind eine ökologische Partei. Wir wollen keinerlei Ausbeutung der fossilen Brennstoffe im Mittelmeer, weder von uns noch von anderen. Stattdessen fordern wir zur Energieerzeugung den massiven Auf- und Ausbau mobiler maritimer Windkraftanlagen.
Die Linken stecken in ganz Europa in einer Krise. Wie könnten sie wieder an Wählerzuspruch gewinnen, wieder wachsen?
Wir hatten 2019 gemeinsam mit den spanischen Podemos, der Die Linke in Deutschland und den französischen Kommunisten ein 150-seitiges Konzept über einen „Green Deal“ für Europa erarbeitet. Das wäre eine sehr gute Basis für eine Zusammenarbeit der Linken auf dem Kontinent.
Weshalb ist das linke Spektrum in Europa so zersplittert?
Wir Linken zerfleischen uns. Das ist die Krankheit all derer, die die Welt verändern wollen.
Wie müsste Griechenland sein, damit Sie sich zurücklehnen und sagen: „Das ist das Griechenland, das ich mir wünsche“?
Dafür müssen zwei Dinge passieren: Erstens muss Griechenland aufhören, ein Schuldenknast zu sein. Die Staatsschulden und die der Privathaushalte sind ein Gefängnis. Ein Schuldenschnitt muss her, für die Menschen wie den Staat. Zweitens dürfen wir nicht die grüne industrielle Revolution verpassen. Ich wünsche mir mobile maritime Windkraftanlagen überall im Mittelmeer, sodass unser Land einen Energieüberschuss erzielt, ihn in grünen Wasserstoff verwandelt und in das übrige Europa exportiert. Das wäre die Nachhaltigkeit, die Griechenland braucht.
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