Gregor Gysi über linke Europapolitik: „Wir werden nicht mehr gefürchtet“

Gregor Gysi glaubt, dass die Linken ihre EU-Skepsis überwinden werden. Wer die EU für nicht reformierbar hält, sei mittlerweile in der Minderheit.

Gregor Gysi breitet auf einer Bühne die Arme aus

Schon seit ein paar Jährchen ist er Präsident der europäischen Linken: Gregor Gysi Foto: reuters

taz: Herr Gysi, Sie lächeln uns von den Straßenplakaten der Linkspartei an. Aber man kann Sie nicht ins Europaparlament wählen. Warum kandidieren Sie nicht?

Gregor Gysi: Weil ich schon im Bundestag bin.

Finden Sie es richtig, wenn Parteien mit Figuren werben, die gar nicht zur Wahl stehen?

Ich verstehe das Argument, aber ich bin ja Präsident der Europäischen Linken. In der Rolle mache ich Wahlkampf.

Auf dem Plakat lächeln Sie in der Mitte neben dem Realo Martin Schirdewan und der Parteilinken Özlem Demirel. Immer Zentrist – das ist Ihre Rolle?

Eher immer im Mittelpunkt. (lacht) Als Vorsitzender versuche ich aber tatsächlich, immer auszugleichen.

2014 wollte Oskar Lafontaine noch, dass die Linkspartei für den Euro-Austritt wirbt. Nun kandidieren für die Linkspartei mehr proeuropäische PolitkerInnen als je zuvor. Was ist passiert?

Die Einsicht, dass wir die EU brauchen, ist gewachsen. Wir können eben Internetkonzerne nur europäisch besteuern – oder gar nicht. Außerdem: Wenn die EU zerbricht, droht der Krieg nach Europa zurückzukehren. Das kann niemand wollen. Und wir haben inzwischen eine europäische Jugend. Der können wir mit einem Zurück zum Nationalstaat, zu geschlossenen Grenzen, Pass und Visumspflicht nicht kommen. Deswegen ist für die große Mehrheit der Partei klar: Wir wollen die EU verändern, aber nicht kaputtmachen.

Nimmt die Linkspartei diese Wahl ernster als 2014?

Ja, weil wir es von Ungarn über Polen bis Italien mit einer Rechtsentwicklung zu tun haben, die gestoppt werden muss. Ihr nachzugeben, wäre der völlig falsche Weg. Die Linke muss das Gegenüber zur Rechtsentwicklung werden. Das ist unsere Aufgabe.

Warum hat die Linkspartei dann zwei weithin unbekannte KandidatInnen aufgestellt? Das bedeutet doch – Europa ist uns doch nicht so wichtig.

Schirdewan kennt die EU-Politik in Brüssel, Demirel war Spitzenkandidatin in NRW. So bekannt sind die Kandidaten der anderen auch nicht.

71, ist seit Dezember 2016 Präsident der Europä­ischen Linken (EL). Gegründet am 8. Mai 2004 in Rom, ist die EL eine von zehn Parteienbündnissen, die bei der zuständigen EU-Behörde als europäische politische Partei registriert sind. Von der deutschen Linkspartei über die Kommunistischen Parteien Frankreichs und Spaniens bis zum Bloco de Esquerda aus Portugal und der griechischen Syriza gehören der EL insgesamt 24 Parteien aus 21 Ländern an. Im Europäischen Parlament bilden sie den Kern der Konföderalen Fraktion der Vereinten Europäischen Linken/Nordische Grüne Linke (GUE/NGL). Ihr gehören noch weitere Parteien an, darunter Podemos aus Spanien, die Socialistische Partij aus den Niederlanden und die irische Sinn Féin. Die neostalinistische Kommunistische Partei Griechenlands (KKE) ist hingegen nicht dabei, sie trat kurz nach der letzten EP-Wahl 2014 aus der Fraktion aus. Derzeit stellt die GUE/NGL-Fraktion 52 von 751 Abgeordnete im Europaparlament. (pab)

Katarina Barley schon.

Aber die anderen? Die sind in Deutschland auch nicht so bekannt. Entweder man findet geeignete Prominente oder man sagt, wir nehmen Leute, mit denen sich die Wählerinnen und Wähler identifizieren können, weil sie so sind wie sie. Das hat auch Vorzüge. So haben wir das ja auch bei der Europäischen Linken gemacht. Da haben wir uns für eine Schauspielerin aus Slowenien und einen Gewerkschafter aus Belgien entschieden. Das sind ebenfalls keine in Europa bekannten Persönlichkeiten, aber kommen jetzt auch gut an.

In der Wahlkampfzeitung der Linkspartei werden Violeta Tomic und Nico Cue nicht einmal namentlich erwähnt. Finden Sie das nicht etwas sonderbar?

Na ja, Nico Cue hat auf unserem Parteitag gesprochen. Beide haben in vielen Ländern an Wahlkampfveranstaltungen teilgenommen.

2014 ist die Europäische Linkspartei noch mit Alexis Tsipras als Spitzenkandidat angetreten. Das war ein anderes Kaliber.

Die Situation war anders. Er war 2014 der einzig mögliche Spitzenkandidat der Linken. Er steht jetzt nicht mehr zur Verfügung. Allerdings wäre es auch schwierig gewesen, sich auf ihn zu verständigen. Was nichts daran ändert, dass ich ihn schätze und mag.

Als Tsipras 2015 griechischer Ministerpräsident wurde, war in der Linkspartei der Jubel groß. Heute wollen etliche von ihm nichts mehr wissen. Können Sie das verstehen?

Ja, die gibt es. Aber das sind nicht viele. Auch sie sollten akzeptieren, dass es Hoffnungen gibt, die leider nicht zu erfüllen sind. Tsipras hat sich als Regierungschef eines der wirtschaftlich schwächsten Länder der EU nicht gegen Deutschland, Frankreich, Großbritannien durchsetzen können. Er hat gekämpft. Er war aber allein auf weiter Flur und musste sich dem Diktat überwiegend beugen. Darunter litten Mitglieder meiner Partei – ich ja auch. Aber ist das seine Schuld? Jetzt gibt es ja auch noch die linke Regierung in Portugal. Die hat mit höheren Löhnen, Renten und Sozialleistungen die Binnenwirtschaft belebt, die Steuereinnahmen steigen. Griechenland wird einen ähnlichen Weg gehen. Dann werden jene, die an Tsipras zweifeln, lernen, ihn wieder zu schätzen.

Wie ist Ihr Verhältnis zu Yanis Varoufakis? Der kandidiert jetzt in Deutschland gegen die Linkspartei.

Es wäre nicht nötig gewesen, dass er als Konkurrent antritt. Wir haben angeboten, dass von seiner Partei in wichtigen Ländern je einer auf einen aussichtsreichen Listenplatz kommt. Varoufakis wollte das leider nicht. Er ist Professor, kein Politiker. Das ändert aber nichts daran, dass er ein netter Kerl ist. Wenn er ins Europaparlament einziehen sollte, glaube ich, dass er dann zur Fraktion der Linken gehen wird. Was soll er da sonst einsam rumsitzen?

Gilt das auch für den französischen Linken-Zampano Jean-Luc Mélenchon?

Für die Fraktion hoffe ich es schon. Mir scheint es dafür auch Anzeichen zu geben.

Wie soll das gehen? Immerhin sind Mélenchon und seine Partei aus Protest gegen die vermeintlich neoliberale Politik von Tsipras aus der EL ausgetreten.

Nach der Wahl werde ich versuchen, diejenigen einzuladen, mit denen wir unser Verhältnis klären müssen. Dazu gehört auch Mélenchon. Man muss ja nicht Mitglied in der EL sein, aber man kann zum Beispiel bei dem jährlichen Forum für ein alternatives Europa der progressiven Kräfte eine größere Rolle spielen. Es gibt Möglichkeiten, zusammenzuarbeiten. Ich bin 71 Jahre und ziemlich geduldig geworden.

Die EL ist in Sachen EU weiterhin gespalten: Manche wollen mehr Europa, andere bekämpfen die EU als Agentur des Neoliberalismus.

Es ist doch so: Wenn sich kapitalistische Länder zusammenschließen, kommt nichts Sozialistisches heraus. Aber was folgt daraus? Lässt sich ernsthaft bestreiten, dass die EU auch ihre Vorteile hat, die wir nicht aufgeben dürfen? Diejenigen, die der Überzeugung sind, die EU sei sowieso nicht reformierbar, sind nur noch eine Minderheit. Da hat sich in den letzten Jahren etwas verändert. Die drei skandinavischen Linksparteien haben jetzt den Satz, dass sie für den Austritt ihres Landes aus der EU sind, aus ihren Programmen gestrichen. Das fand ich ein beachtliches Zeichen, weil das wirklich einen Grundwiderspruch aufgelöst hat. Von daher bin eher optimistisch.

Für das nächste EP brauchen Sie viel Optimismus: Die Rechtspopulisten werden stärker, die Linksfraktion im EP verliert bestenfalls keine Sitze.

Abwarten. Die Rechten haben einen Dämpfer bekommen, weil mit dem Strache-Videoskandal bewiesen ist, wie käuflich sie sind. Ich hoffe, optimistisch wie ich bin, dass nun doch manche nicht rechts wählen werden, die es vorher planten. Und vielleicht wählen uns doch noch ein paar mehr, als die Umfragen ahnen lassen.

Beim EU-Parteitag der deutschen Linkspartei waren 45 Prozent für eine europäische Republik – eine kühne Vision. Ist die realistisch?

Die EU ist ein interessantes Geflecht, das entweder stückweise zerbröckeln wird oder aber wir entwickeln es weiter. Am Ende kann man auch davon träumen, dass es die Vereinigten Staaten von Europa gibt. In meinem Leben wird das wohl nicht mehr verwirklicht. Aber man braucht Visionen.

Es gibt in der Bundesrepublik wegen explodierenden Mieten Enteignungsbegehren …

Das Soziale galt lange als altbacken. Der Zeitgeist ist jetzt anders.

… aber der Linkspartei nutzt das nichts. Warum?

Die Linkspartei wäre manchmal wieder gerne Protestpartei – ist sie aber nicht mehr. Wir regieren in Berlin, Brandenburg und Thüringen und brauchen auch etwas eine neue Identität. Aber: Wir haben auch enorm an Akzeptanz gewonnen. Der heftige Widerstand gegen uns hat abgenommen. Das ist ein echter Fortschritt.

Nach Sahra Wagenknechts Rückzug gibt es ein Machtvakuum in der Fraktion. Gibt es jetzt wieder Streit?

Das haben viele vorhergesagt, ist aber nicht so.

Der Fraktionsvorstand wird demnächst neu gewählt. Wäre Dietmar Bartsch alleine eine gute Wahl?

Warum nicht? Für ein Jahr kann er das gut alleine machen, später zusammen mit einer Frau.

Also für den Übergang?

Ja, der nächste Parteitag findet etwa ein Jahr vor der Bundestagswahl statt. Dann müssen wir sowieso alles neu sortieren. Dieser Termin wäre also günstig zur Wahl von zwei Doppelspitzen in Fraktion und Partei. Ich fände das einleuchtend. Aber es gibt auch andere Ansichten.

Sie träumen lange schon von Rot-Rot-Grün. Glauben Sie eigentlich, dass Sie eine Mitte-links-Regierung noch erleben werden?

Das weiß ich nicht. Interessant ist aber doch, dass wir uns Schritt für Schritt Respekt erarbeitet haben. Wir stehen für Friedenspolitik, soziale Gerechtigkeit und ökologische Nachhaltigkeit in sozialer Verantwortung. Wir werden nicht mehr gefürchtet.

Herr Gysi, Sie klingen ja wie ein Sozialdemokrat.

Nein, beim Frieden überhaupt nicht. Die SPD stimmt doch fast allen Militäreinsätzen zu. Ich halte das für den falschen Weg – ebenso wie damals die Agenda 2010. Die SPD als zweite Union braucht doch niemand.

Die Linkspartei als zweite SPD vielleicht auch nicht?

Nein, wir sind demokratische Sozialisten. Wir wollen bestimmte Seiten des Kapitalismus – wie die Unfähigkeit zu sozialer Gerechtigkeit und die Fähigkeit zu Kriegen – überwinden und nur Vernünftiges er­halten. Wie demokratischer Sozialismus konkret aussieht, erzähle ich Ihnen dann beim nächsten Mal.

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