Giro d'Italia und soziale Proteste: Die Straße genau kennen
Radprofi Egan Bernal fällt beim Giro doppelt auf. Er führt in der Gesamtwertung und gilt als Kritiker der Missstände in seiner Heimat Kolumbien.
Egan Bernal ist ein sensibler Bursche. Das durfte man schon bei seinem Tour-de-France-Sieg 2019 beobachten. Ganz unverstellt gab er sich seinen Gefühlen hin, schämte sich nicht seiner Tränen. Kurz vor dem Giro bewies der Kolumbianer Sensibilität mit den Menschen in seinem Land.
Obwohl mittlerweile mit einem Millionenvertrag beim britischen Rennstall Ineos ausgestattet, hat er die Härten seiner eigenen Kindheit nicht vergessen und solidarisierte sich deshalb mit der Protestbewegung in Kolumbien gegen die Steuerreformen der konservativen Regierung.
„Ich möchte hier nicht jeden Tag zu diesem Thema Stellung nehmen. Aber mich besorgt es, was in Kolumbien vorgeht. Und ich habe ja auch schon deutlich dazu Stellung genommen“, meinte er nach dem Überstreifen des rosa Trikots am Donnerstag gegenüber Pressevertretern.
Bernals Haltung ist eindeutig. Noch vor dem Beginn des Giro textete er auf Instagram: „Was mich besonders beschämt, sind die Toten und die vielen Gewaltakte der Behörden gegen die Demonstranten. Das betrübt mich genauso wie das Verhalten der Personen, die die Unruhen für Vandalismus ausnutzen.“ Er verstehe zwar die Gründe, die zu der Reform geführt haben, betonte er, warf aber zugleich den Regierenden eine zu große Entfremdung von der gesellschaftlichen Realität, in der weite Teile der Bevölkerung leben, vor.
„Es gibt schlimmste Armut, Gewalt, Gesundheitsprobleme“
„Wenn diese Leute unter den gleichen Bedingungen lebten wie ein großer Teil der Menschen, würden sie sie nicht derart ausquetschen wollen“, schrieb er. „Das Problem ist, dass das Land in einigen Gegenden in einem Zustand des Desasters ist. Es gibt Zonen schlimmster Armut, mit Gewalt, Gesundheitsproblemen und Mangel an Bildung.
Ein Land zu regieren, ist nicht einfach, aber die, die an der Macht sind, müssen dazu in der Lage sein. Es ist ihre Verantwortung.“ Solche Töne hört man selten von Radprofis. Und auch dass sie während einer Rundfahrt, die sie gewinnen wollen, ihre Gedanken nicht komplett vor allem, was nicht rennrelevant ist, verschließen, ist eher selten.
Bernal kommen seine Sensoren aber auch in seinem Sport zugute. Beim Giro zeigte er sich bislang sehr auf der Höhe der Dinge. Wenn es wichtig war, parierte er Attacken selbst und ließ ansonsten die Teamkollegen den Job erledigen. Für eigene Attacken nutzte er bislang optimale Momente. Sowohl am Berg als auch auf den Schotterstrecken fuhr der gelernte Mountainbiker den meisten Rivalen davon. Er war auf kurzen Rampen wie auf der vierten Etappe nach Sestola und zur Skistation Campo Felice auf der 9. Etappe der explosivste Fahrer. Dort holte er sich mit dem Tagessieg auch erstmals das rosa Trikot.
Auf den längeren Bergen wie dem 15 Kilometer langen San Giacomo auf der 6. Etappe war er erneut der Ausdauerndste. Und auf den Schotterstraßen der Strade Bianche auf der 11. Etappe ließ er zunächst ganz abgeklärt den Ravensburger Emanuel Buchmann ziehen, um ihn dann doch einzufangen und im Sprintduell um Platz 11 ganz locker zu schlagen. In all diesen entscheidenden Momenten war er der beste Klassementfahrer beim Giro. Gegenwärtig zeigt Bernal keine Schwäche. Und sollte er eine haben, ist sein Team Ineos in der Lage, dies durch ein Tempo zu überspielen, das den eigenen Kapitän nicht plattmacht, der Konkurrenz aber den Zahn zieht.
Das Finale auf dem Monte Zoncolan am heutigen Samstag wird Bernal aber wohl allein bestreiten müssen. Gewöhnlich tröpfeln die Fahrer da einzeln ein, voll beschäftigt im Kampf gegen die Schwerkraft auf den bis zu 27 Prozent steilen Anstiegen. Einen kleinen Vorteil immerhin hat die Konkurrenz: Bernal ist den Berg selbst noch nicht gefahren.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Krieg in der Ukraine
Kein Frieden mit Putin
Entlassene grüne Ministerin Nonnemacher
„Die Eskalation zeichnete sich ab“
Umgang mit der AfD
Sollen wir AfD-Stimmen im Blatt wiedergeben?
Utøya-Attentäter vor Gericht
Breivik beantragt Entlassung
Böllerverbot für Mensch und Tier
Verbände gegen KrachZischBumm
Warnung vor „bestimmten Quartieren“
Eine alarmistische Debatte in Berlin