Gewerkschaft Verdi wird 20 Jahre alt: Geburtstag in schwierigen Zeiten

Die Ver.di feiert am Freitag ihr 20-jähriges Bestehen. Haben sich die einst hochfliegenden Hoffnungen in die Dienstleistungsgewerkschaft erfüllt?

Gewerkschafter in Verdi-Warnwesten vor einer Pforte

„Sicherheit und Perspektive“ wünschen sich GewerkschafterInnen in Stuttgart Foto: Tom Weller/dpa

BERLIN taz | Als die Vereinte Dienstleistungsgewerkschaft, kurz Ver.di, im März 2001 nach langen vorbereitenden Diskussionen schließlich aus der Taufe gehoben wurde, herrschte unter den Delegierten des Gründungskongresses eine gewisse Euphorie. Der Gründungsvorsitzende Frank Bsirske schwor die Delegierten auf eine neue gewerkschaftliche Politik und Organisationskultur ein, auf Solidarität in der Vielfalt, auf eine politische, offenere, diskussionsfreudige Gewerkschaftsarbeit: „Die Vereinte Dienstleistungsgewerkschaft – wegen Umbau geöffnet!“ Seine Aufforderung wurde mit frenetischem Jubel aufgenommen.

An diesem Freitag feiert Ver.di nun – coronabedingt rein digital – ihren 20. Geburtstag. Was ist geblieben von den hochfliegenden Hoffnungen des Anfangs? Haben sich die Verheißungen des neuen Vorsitzenden in den nachfolgenden 20 Jahren, in den Mühen der alltäglichen gewerkschaftlichen Arbeit realisiert?

Als im März 2001 die Gewerkschaften Öffentliche Dienste, Transport und Verkehr (ÖTV), Handel, Banken und Versicherungen (HBV), die Deutsche Postgewerkschaft (DPG), die IG Medien und die Deutsche Angestellten-Gewerkschaft (DAG) fusionierten, sollte damit ein langjähriger, schier unaufhaltsam erscheinender Niedergang der Gründungsgewerkschaften gestoppt werden. Jetzt kam das Neue, der Aufbruch in eine bessere, erfolgreichere Zukunft. Das war der Traum.

Mit Ver.di entstand eine gewerkschaftliche Massenorganisation mit damals rund 2,8 Millionen Mitgliedern – eine bunte Vielfaltgewerkschaft mit weit gefächerter Branchenzuständigkeit und über tausend unterschiedlichen Berufen. Das alles wurde in 13 Fachbereichen zusammengefasst, die dem sich verändernden, diffuser und durchlässiger werdenden Branchenzuschnitt gerecht werden sollten. Ist Ver.di tatsächlich ein Erfolgsmodell gewerkschaftlicher Politik für das 21. Jahrhundert geworden? Die Antwort ist nicht eindeutig.

Die alten Probleme bestehen fort

Die Multibranchengewerkschaft ­ Ver.di hat heute mehr als 800.000 Mitglieder weniger als im Gründungsjahr 2001. Im vergangenen Jahr verzeichnete sie zwar mehr als 123.000 Neueintritte, aber noch mehr Abgänge – was insgesamt ein Minus von 14.000 Mitgliedern ergab.

Das allein zeigt, dass die Schwierigkeiten, welche die Gründungsgewerkschaften in die Fusion getrieben haben, mit der Ver.di-Gründung nicht verschwunden sind, sondern auch heute noch die Arbeit in einem großen Teil des Ver.di-Organisationsbereichs erschweren.

Mit der Gründung von Ver.di entstand eine Multibranchengewerkschaft, welche die Beschränkung auf fest umrissene Branchensegmente zugunsten des übergeordneten Begriffs „Dienstleistung“ aufhob. Der Organisationsbereich ist riesig und umfasst nach der Branchenstatistik des Statistischen Bundesamtes von 2020 rund 20 Millionen Beschäftigte, etwa zwei Drittel aller abhängig Beschäftigten in Deutschland.

Aber in vielen Bereichen ist die gewerkschaftliche Organisierung gering, und ein wachsender Bereich prekärer Beschäftigung und abhängiger freiberuflicher Tätigkeit wurde für Ver.di zu einem wichtigen gewerkschaftspolitischen Thema.

Am Anfang viel mit sich selbst beschäftigt

Die bei der Gründung beschlossene „Matrixorganisation“ war ein Versuch, die unmittelbare Branchenkompetenz der in Ver.di aufgegangenen Gewerkschaften mit einer allgemeinen, auf die Gesamtheit der abhängig Arbeitenden bezogenen Gewerkschaftspolitk zu verbinden.

Dies führte in den ersten Jahren zu erheblichen Reibungsverlusten mit zahllosen Gremien von Fach- und Personengruppen. Der gewerkschaftliche Apparat beschäftige sich vorwiegend mit sich selbst, anstatt sich im unmittelbaren Kontakt für die Interessen der Mitglieder zu engagieren, kritisierten viele der ehrenamtlichen Gewerkschafter*innen.

Hinzu kam, dass Ver.di in erheblichem Maße sparen und Personal abbauen musste – eine Belastung, die von den Gründungsgewerkschaften auf Ver.di übertragen worden war.

Der gesetzliche Mindestlohn – ein Erfolg von Ver.di

Heute, in ihrem 20. Jahr, ist Ver.di organisatorisch und finanziell konsolidiert. Sie hat sich sowohl in der Öffentlichkeit wie auch in der politischen Sphäre als glaubwürdige und durchsetzungsfähige Anwältin der sozialen Interessen abhängig Beschäftigter etabliert.

Nichts verdeutlicht dies besser als der beharrliche Kampf um den gesetzlichen Mindestlohn, den Ver.di und die kleine Gewerkschaft NGG zunächst sogar innerhalb des DGB gegen die zögerlichen Industriegewerkschaften führen mussten, die einen Bedeutungsverlust tarifvertraglicher Lohnpolitik durch einen staatlich gesetzten Mindestlohn befürchteten.

Ver.di war beharrlich. Der bis 2019 amtierende Vorsitzende Bsirske versäumte kein Fernsehinterview, um auf den Skandal von „Armut trotz Arbeit“ aufmerksam zu machen. Unermüdlich widersprach er der Unternehmerpropaganda, ein Mindestlohn würde 2 Millionen Arbeitsplätze vernichten.

Nach der Linkspartei machte sich schließlich auch die SPD für den gesetzlichen Mindestlohn stark und setzte ihn in der Großen Koalition durch: Am 16. August 2014 trat das Mindestlohngesetz in Kraft, zunächst (ab 1. Januar 2015) in der noch unbefriedigenden Höhe von 8,50 Euro. Rund 5,6 Millionen Menschen, viele davon prekär beschäftigt, profitierten davon. Heute geht es um die Durchsetzung eines existenzsichernden Niveaus von mindestens 12 Euro.

In dieser Kampagne manifestierte sich der branchenübergreifende gewerkschaftspolitische Charakter von Ver.di besonders deutlich. Der Soziologe Klaus Dörre schrieb 2019 in einem Sammelband zu Frank Bsirskes Abschied von einer kämpferischen „Konfliktpartnerschaft“.

Hier wurde – nach mehr als 55 Jahren – anschaulich demonstriert, was prominenten Gewerkschaftern unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg beim Wiederaufbau der Gewerkschaften vergeblich vorschwebte: Statt selbstständiger Branchengewerkschaften wollten sie eine alle Branchen und parteipolitische Strömungen übergreifende, politisch aktive „Organisation des Proletariats“, eine „Allgemeine Gewerkschaft“ gründen. Mit Ver.di entstand – für den Teilbereich des heute dominanten Dienstleistungssektors – so etwas wie eine „Allgemeine Gewerkschaft“.

Der Aufbau von Gegenmacht

Stärke und Schwäche liegen da dicht beieinander. Ver.di beansprucht zwar einen riesigen Organisationsbereich, liegt aber mit ihren rund 1,94 Millionen Mitgliedern bei einem Organisationsgrad von bestenfalls 10 Prozent – und damit weit hinter den Industriegewerkschaften zurück.

Die Aussichten, daran etwas zu ändern, sind eher mäßig. Bisher hoch organisierte Branchen wie der Druckbereich schrumpfen, zersplitterte Betriebsstrukturen und repressive Unternehmenskulturen wie in großen Teilen des Handels erschweren gewerkschaftliche Organisierung. Der Mitgliederrückgang wurde bis heute nicht völlig gestoppt.

Ermutigend ist, dass die Zahl der aktiv im Beruf stehenden Mitglieder inzwischen weitgehend stabil ist. Dem Rückgang in Krisenbereichen steht Mitgliederzuwachs etwa im Gesundheitsbereich und bei den Kita-Beschäftigten gegenüber – „systemrelevanten“ Bereichen, deren Bedeutung während der Coro­na­krise von der Bevölkerung dankbar beklatscht wurde.

Auch der Fachbereich „Besondere Dienstleistungen“, in dem ein Sammelsurium unterschiedlichster kleiner Branchen zusammengefasst ist, verzeichnet Zuwachs – auch dies ein Hinweis auf die Sinnhaftigkeit einer branchenübergreifenden gewerkschaftspolitischen Konzeption.

„Weißer Fleck“ Amazon

Immer wieder versucht Ver.di, in bislang unerschlossenen Bereichen gewerkschaftliche Gegenmacht aufzubauen. Das ist nicht leicht: Kampagnen wie die gegen den Schwarz-Konzern (Lidl) wurden in der ersten Ver.di-Dekade abgebrochen. Auch die jahrelange, inzwischen internationale Kampagne für einen Tarifvertrag bei dem gewerkschaftsfeindlichen Amazon-Konzern zeigt, dass der Aufbau von Gewerkschaftsmacht in bisher „weißen Flecken“ einen langen Atem braucht.

Es kostet viel haupt- und ehrenamtliches Engagement und viel Geld, ohne dass kurz- oder mittelfristig eine „Rendite“ bei Mitgliederzahl und Beitragseinnahmen zu erwarten ist. Dennoch zeigt sich dabei, was Frank Bsirske vor 20 Jahren verheißungsvoll angekündigte: „Etwas Neues, eine lebendige, vielfältige, streitlustige Dienstleistungsgewerkschaft für das 21. Jahrhundert.“

Martin Kempe, geboren 1943, gehört zu den Gründern der taz, für die er bis 1991 als Redakteur arbeitete. Von 2002 bis 2007 war er Chefredakteur der Gewerkschaftszeitung „ver.di PUBLIK“. Seitdem arbeitet der Diplompolitologe als freier Publizist in Hamburg.

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