Gewalttat im Oberlinhaus Potsdam: Widersprüche und Fragen
Beim Prozess um die Tötung vierer Menschen mit Behinderung sagten Pflegerinnen aus. Die Arbeitsbelastung wurde unterschiedlich bewertet.
Am Donnerstag fand am Landgericht Potsdam der zweite Prozesstag im Strafverfahren gegen die ehemalige Pflegerin statt. Zuvor waren wegen einer Corona-Infektion eines Schöffen nach dem Prozessauftakt am 26. Oktober die folgenden drei Prozesstage abgesagt worden. Zum Prozessauftakt hatte die Staatsanwaltschaft der Angeklagten durch den geplanten Ablauf der Gewalttat Heimtücke vorgeworfen. Es besteht wenig Zweifel daran, dass Ines R. die Tat begangen hat. Nach einem Gutachten wird bei ihr von einer verminderten Schuldfähigkeit ausgegangen. Im Prozess wird nun die Frage gestellt, unter welchen Rahmenbedingungen in der Wohneinrichtung des Oberlinhauses gearbeitet wird.
Dafür wurde am zweiten Prozesstag knapp drei Stunden lang die Leiterin des Thusnelda-von-Saldern-Haus als Zeugin befragt. Sie berichtete vom Arbeitsalltag in der Pflegeeinrichtung und vom Personalschlüssel. Der Vorsitzende Richter Theodor Horstkötter nahm sich viel Zeit, um die Arbeitsabläufe in der Wohneinrichtung zu verstehen, stellte viele Fragen zu möglichen Belastungen, zu Dienstplänen, zur Handhabung bei spontanem Dienstausfall von Kolleg*innen. Auch wurden die unterschiedlichen Aufgaben von Pflegefachkräften und Pflegehilfskräften, als letzteres arbeitet Ines R. in Potsdam, detaillierter vor Gericht erfragt.
Während ihre ehemalige Vorgesetzte aussagt, schaute Ines R. regungslos in den Raum und sucht keinen Blickkontakt. Als die Sprache auf die getöteten Menschen kommt, kommen der Leiterin der Einrichtung die Tränen: „Dieses Haus ist mein Baby, ich wollte damit etwas für junge Leute erreichen und eine Versorgungslücke schließen. Natürlich tut es mir weh, ich kenne jeden Einzelnen dort“, so die 50-Jährige, die wie die Angeklagte in Potsdam lebt und schon seit vielen Jahren für das Oberlinhaus arbeitet. Mit dem Wohnverbund des Thusnelda-von-Saldern-Hauses sollte ein Ort geschaffen werden, an dem Menschen mit Behinderung dauerhaft oder zeitweise wohnen können und individueller auf die verschiedenen Bedürfnisse der Bewohner*innen eingegangen werden sollte.
Ines R. kannte zwei Getötete von Kindesalter an
Die Beziehung zu Ines R. beschreibt die ehemalige Chefin als vertrauensvoll, aber auf den dienstlichen Austausch beschränkt. Ines R. habe nach Aussage der Hausleiterin zwei der getöteten Menschen schon von Kindesalter an gekannt, da sie zunächst in einer Pflegeeinrichtung für Kinder mit Behinderung arbeitete. Ihr soll mehrfach angeboten worden sein, auch eine andere Tätigkeit im Haus ausüben zu können, etwa stärker in die fördernde Arbeit von Bewohner*innen eingebunden zu werden, die auch körperlich weniger anstrengend sei: „Frau R. hat immer wieder betont, dass sie in der Pflege bleiben möchte und ihr die Förderung nicht liegt“, sagte die Leiterin. Auch ein Angebot, wegen einer körperlichen Beeinträchtigung in der gleichen Abteilung als Wirtschaftskraft zu arbeiten, habe sie aus finanziellen Gründen abgelehnt.
Mehrfach hätte die Leitung Ines R. außerdem angeboten, neben dem Beruf zusätzlich eine Teilzeitausbildung zur Pflegefachkraft zu absolvieren. Das würde auch finanzielle Vorteile bringen. Das hätte Ines R. mit der Begründung ihres Alters abgelehnt: „Ich hätte es ihr zugetraut und sie gerne unterstützt, das Know-how hatte sie“, so die Leiterin vor Gericht.
Dienstausfälle infolge von Corona
In der Befragung vor Gericht ging es am zweiten Prozesstag hauptsächlich um die Arbeitsbelastung in der Pflege, nur selten wurde von den getöteten Menschen gesprochen. Corona habe auch im Oberlinhaus durch Quarantäneverordnungen spontane Dienstausfälle gebracht, außerdem sei in der Wohngruppe von Frau R. 2021 eine Mitarbeiterin länger krankgeschrieben gewesen, berichtet die Hausleiterin vor Gericht. Spontan einzuspringen könne von Mitarbeitenden allerdings abgelehnt werden, es werde also nicht erwartet. Für diese Fälle gäbe es Notfallpläne, in denen festgelegt sei, welche Aufgaben Priorität hätten und was wegfallen könne. Sollte etwa nur eine Person arbeiten, könne nur noch das Nötigste gemacht werden: „Essen, Trinken, Medikamente, also die Grundversorgung“, so die Leiterin.
Doch den oft beschriebenen Dauerbelastungszustand in der Pflege beschreibt die Leiterin nicht. Der Personalschlüssel hätte sich nach ihrer Aussage in der betreffenden Wohngruppe 2021 deutlich verbessert. Damit zeichnet sie ein anderes Bild der Situation in der Einrichtung, als die zweite Zeugin des Tages. Die 37-jährige Krankenschwester Franziska S. hat von März 2019 bis zum Ende November 2020 in der Wohngruppe gearbeitet. Sie berichtete von starker Überlastung, von Übergaben, die nicht klappten und von einem Team, das zunehmend auseinanderfiel.
Auch die mutmaßliche Täterin Ines R. hätte regelmäßig von Überlastung in ihren Diensten gesprochen. Franziska S. hätte die Bedingungen, unter denen sie arbeiten musste und die wenige Zeit, die sie für die Menschen in den Wohneinrichtungen aufwenden konnte, als nicht mehr vertretbar empfunden und gekündigt. Sie sagte vor Gericht: „Ich habe gekündigt, weil ich das mit meinem Gewissen nicht mehr vereinbaren konnte.“ Auch eine dritte Zeugin, die als Altenpflegerin tätig ist und sich als Freundin von Ines R. beschreibt, berichtet von Überlastungen bei der Arbeit, ihre Erzählungen decken sich im Wesentlichen mit denen ihrer Vorrednerin. Im Anschluss wurde noch eine langjährige Therapeutin der Angeklagten vor Gericht befragt. Diese schilderte unter anderem, wie auch schon die Angeklagte am ersten Prozesstag, die konfliktreiche Beziehung von Ines R. zu ihrer Mutter und weitere Vorkommnisse in ihrer Kindheit.
Viele Fragen wurden an diesem zweiten, fast siebenstündigen Prozesstag gestellt, es gab manche Widersprüche und es wurden eindrückliche Erfahrungsberichte aus dem Pflegealltag gehört. Menschen mit Behinderung, die das Thusnelda-von-Saldern-Haus aus der Sicht von Bewohner*innen beschreiben könnten, kamen jedoch nicht zu Wort.
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