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Gewalt in AfghanistanIS verstärkt Anschläge gegen Schiiten

Die Schiiten zelebrieren in Afghanistan zehn Tage lang eigene Trauerrituale. Während dieser Zeit drohen ihnen noch mehr Anschläge als sonst.

Bedrohte Minderheit: afghanische Schiiten bei Trauerprozession Foto: dpa

BERLIN taz | In Afghanistan hat am Dienstag die Trauerdekade des islamischen Monats Muharram begonnen. In diesen zehn Tagen, so befürchten die Schiiten des Landes, könnten sie verstärkt Ziel von Anschlägen werden. Rund 30 Prozent der afghanischen Bevölkerung zählen sich zur schiitischen Minderheit. Und seitdem der afghanische Ableger des „Islamischen Staates“ (IS) in Irak und Syrien – er nennt sich „Islamischer Staat Khorasan-Provinz“ (ISKP) – Ende 2014 aufgetaucht ist, hat er diese zu seinem Vorzugsziel gemacht.

Angesichts der wachsenden Furcht vor Anschlägen haben einige Heißsporne in den sozialen Medien bereits verlangt, die schiitische Bevölkerung zu bewaffnen. Deren führende Politiker halten sich zurück, fordern von der Regierung aber zusätzliche Vorsichtsmaßnahmen. Wie prekär die Lage ist, zeigen die jüngsten Angriffe: So zündeten zwei Selbstmordattentäter am vorigen Mittwoch im Ringerklub Maiwand im schiitischen Stadtteil Dascht-e Bartschi in West-Kabul ihre Sprengstoffgürtel. Sie brachten mindestens 25 Menschen um und verletzten weitere 70. Der Klubchef sprach sogar von 35 Toten. Die schiitischen Ringer spielten bei früheren Anschlägen oft die schnelle Eingreiftruppe, sperrten betroffene Gebiete ab und evakuierten Verletzte. Besonders perfide war, dass der zweite Angreifer erst zuschlug, nachdem erste Helfer und Journalisten eingetroffen waren.

Vorausgegangen war bereits eine Welle ähnlicher Anschläge gegen schiitische Moscheen, Schreine und Bildungsvereine sowie Wahlbüros und Ministerien, für die der IS die Verantwortung übernahm. Insgesamt sind laut UNO im ersten Halbjahr 2018 landesweit 115 Schiiten ums Leben gekommen, 251 wurden verletzt. Von Anfang 2016 bis November 2017 berichteten sie über 51 Anschläge auf Moscheen und Gläubige mit 242 Toten und 495 Verletzten – „die übergroße Mehrheit Schiiten“. 2018 war der afghanische IS für die Hälfte aller Zivilopfer sowohl in Kabul als auch landesweit verantwortlich.

Besonders gefährdet sind die Schiiten am 7. Muharram, am kommenden Montag. Dann sollen sie sieben Moscheen besuchen und ziehen in Massen durch die Stadt. Danach treffen sie sich normalerweise zum gemeinsamen Essen in den Straßen – in Gedenken an ihren im Jahr 680 gefallenen Führer Imam Hussein. Prozessionen finden auch am 9. und 10. Muharram statt.

Gewehre an Moscheen

Bereits 2017 verteilte die Regierung nach Anschlägen je fünf Gewehre an die Komitees von 50 schiitischen Moscheen, deren Träger ein Gehalt bekommen. Die Waffen werden in Kooperation mit der örtlichen Polizei beaufsichtigt. Schiitenführer fordern jetzt die Ausweitung der Maßnahmen auf 150 Moscheen.

Zu den Schiiten gehören vor allem die ethnische Gruppe der Hasara sowie die sogenannten Sadat. Letztere führen ihre Abstammung auf den Propheten Mohammed zurück, sehen sich deshalb als Araber, werden aber oft mit den Hasara in einen Topf geworfen, nicht zuletzt von deutschen Asylbehörden. Es gibt auch schiitische Paschtunen.

2018 war der afghanische ISfür die Hälfte aller Zivilopfer verantwortlich

Am Dienstag, dem 17. Jahrestag der 9/11-Terroranschläge, sprengte sich in der Ostprovinz Nangrahar ein Mann in einer Gruppe – wohl religiös gemischter – Demonstranten in die Luft. Es gab mindestens 19 Tote und fast 60 Verletzte. In Kabul und Kandahar wurden Polizisten aus dem Hinterhalt ermordet. Zudem gingen Sprengsätze vor drei Schulen in der Provinz hoch. Dabei wurde ein Schüler getötet.

Diese Anschläge lenken aber auch von den anhaltenden Angriffen von Seiten der Taliban im ganzen Land ab: vor allem im Westen, Norden und Osten. So erlitten die Regierungstruppen bei Taliban-Angriffen auf Armee- und Polizeistützpunkte und bei Kämpfen in 14 Provinzen zum Teil erhebliche Verluste.

Mit Sarepul steht inzwischen die nächste Provinzhauptstadt vor dem Fall. Auch zwei Distrikte fielen inzwischen an die Taliban, Chamab im Nordwesten und Daimirdad in einer Nachbarprovinz von Kabul.

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1 Kommentar

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  • Der Iran hat zur Unterstützung Assads eine Miliz aus schiitischen Afghanen aufgebaut, die Liwa Fatemiyoun. Sobald diese in Syrien frei werden, könnten deren Angehörigen zu der Verteidigung in Afghanistan übergehen. Der Iran könnte sogar den Status einer schiitischen Schutzmacht anstreben, wenn ihm an einem größeren Einfluss im Nachbarland gelegen ist.