Gesetze in Deutschland: Wissen ist Recht
Eine wirklich freie Gesellschaft braucht in Rechtsfragen kompetente Bürgerinnen und Bürger. Heißt: Das juristische Basiswissen muss gestärkt werden.
R echt haben, recht geben, im Recht sein – das sind allesamt Redewendungen, mit denen wir ausdrücken, was wir als Recht empfinden, also uns „im Recht fühlen“. Fühlen können das nämlich alle. Wissen davon haben aber nur wenige, dabei wäre ein leichteres Zurechtfinden in Tausenden von Gesetzen und Verordnungen angebracht. Oft gerät aus dem Blick, dass eine Rechtsordnung verstanden sein muss, wenn sie Zusammenleben erleichtern soll.
ist Rechtsanwalt in Frankfurt am Main und Hochschullehrer an der privaten International School of Management (ISM) in Berlin und Frankfurt.
Was ist eigentlich Recht? Vereinfacht lässt es sich entweder als dasjenige definieren, was die Gesetzgebung geschaffen hat, oder als ein Empfinden, welches uns naturgemäß gegeben ist. Entwendet jemand unser Fahrrad, wird das niemand hinnehmen wollen, ganz gleich ob die dazu passende Gesetzesvorgabe (§ 985 aus dem Bürgerlichen Gesetzbuch) bekannt ist. Es gibt also ein grobes „Gerechtigkeitsempfinden“, das aber diffus und subjektiv ist.
Ein Beispiel: Meinungsstreit bei Wohnraumknappheit. Verbindliche Regeln für das zwischenmenschliche Miteinander sind also sinnvoll. Hilfreich ist es dazu auch, diese zu dokumentieren. Seit mehr als 120 Jahren gibt es deshalb das Bürgerliche Gesetzbuch (BGB) als zentrale Rechtsgrundlage. Aber kaum jemand hat es im Bücherschrank stehen. Wesentliches daraus sollte aber Allgemeinbildung sein. Dieses Gesetzbuch ist nämlich die Grundlage für alltägliche Einkäufe und umfasst viel, was uns den Alltag erleichtern kann. Besonders hilfreich wäre es deshalb, wenn diejenigen, um deren Leben es geht, wissen und nicht nur fühlen, was geregelt ist.
Der juristische Wissenstransfer in die Bevölkerung lässt aber zu wünschen übrig: Tatsächlich ist Rechtsbildung nur einem Teil vorbehalten. Die meisten Menschen haben kaum Zugang. Unterstützung durch Beratungsstellen für Mieter, Arbeitnehmende sowie Verbraucherinnen und Verbraucher ist nicht ausreichend vorhanden, kommt oft zu spät oder kann unverhältnismäßig aufwändig sein. Anwaltlicher Rechtsrat ist zudem mit Kosten verbunden, da ein weitreichendes Rechtsberatungsmonopol besteht. Für unsere Gesellschaft ist das riskant.
Bei der Vermittlung von Werten würde Rechtskenntnis Lehrenden und Erziehenden helfen, wenn der Zusammenhang von Pünktlichkeit oder Rücksichtnahme mit konkreten Rechtsvorgaben gezeigt wird. Zur Sozialisation müsste viel früher und intensiver jungen Menschen die Integration in unsere Rechts- und Wertegemeinschaft erleichtert werden, indem ihnen wesentliche Regeln erklärt werden.
Das ist in der Theorie so vorgesehen. Allerdings gelingt es in der Umsetzung selten: Rechtsbildung wird als trocken und abstrakt empfunden, weil der Praxisbezug allzu oft fehlt. Viele Jugendliche kennen ihre rechtliche Rolle und ihre Rechte in der Konsumgesellschaft kaum. Außerdem basiert unsere Wirtschaftsordnung auf der fraglichen Annahme, dass Menschen sich frei vertraglich binden können. Das wird als „Privatautonomie“ bezeichnet, unterscheidet sich vom Staatssozialismus, funktioniert im Alltag aber nur mäßig.
Ein Beispiel: Viele meinen, man könne Ware stets zu dem ausgepreisten Betrag verlangen. Oft wird angenommen, nur schriftliche Vereinbarungen seien verbindlich – dabei gibt es auch mündlich geschlossene Verträge. Die meisten wissen vermutlich nicht, dass bei defekter Ware nicht direkt Geld zurückgezahlt werden muss. Außerdem glauben viele, Gekauftes könne ohnehin bei Nichtgefallen zurückgegeben werden. Auch über das Thema Haftung ist wenig bekannt. Unkenntnis von Scheidungsfolgen oder Erbschaften besteht. Im Ergebnis kann also diese vermeintliche „Freiheit“ nach unserer Verfassung mangels Rechtskenntnis nicht effektiv genutzt werden.
Besonders problematisch ist das, wenn man die Funktionsweise der sozialen Marktwirtschaft kritisch hinterfragt: Rechtskenntnis bedeutet Überlegenheit. Wenn diese nur einem Teil zukommt, werden soziale Unterschiede größer. Dass immer mehr durch Verbraucherschutz, Mieterschutz oder Arbeitsplatzschutz staatlich regulierend eingegriffen wird, zeigt die Fehlentwicklung deutlich. „Hilfe zur Selbsthilfe“ durch Rechtskompetenz wäre ein ergänzender Weg, denn zielgerichtete Bildung könnte Überregulierung und gerichtliches Eingreifen entbehrlich machen. Wer die eigene Rechtsposition einschätzen kann, wird eher nachgeben – oder, wenn er recht hat, mit Verweis auf das Gesetz auf seinem Recht bestehen.
Demokratie braucht rechtskundige Bürger
Neben dieser Kluft bei der Rechtskompetenz im wirtschaftlichen Miteinander ist die politische Komponente wichtig. Demokratie braucht rechtskundige Bürgerinnen und Bürger. Es geht um Machtkontrolle, auch mittels Rechtskenntnis. Wenn nicht verstanden wird, was in der parlamentarischen Gesetzgebung vor sich geht, kann Vertrauen schwinden. So wird die Gefahr größer, dass autokratische Konzepte populär werden, weil sie vermeintlich einfache Lösungen ohne Eigenverantwortung suggerieren.
Das mag bequemer für sorglos Regierbare sein, aber um den Preis der Willkürgefahr. Autoritäre Regierungsformen versuchen neben Einschränkung der Meinungsfreiheit typischerweise, das Rechtsverständnis für die Allgemeinheit einzuschränken. Der demokratische Staat kann sich besser schützen, wenn Recht bekannter und einfacher wird.
Fazit: Alle Beteiligten müssen sich mehr Gedanken machen, wie zumindest juristische Basiskenntnisse in der Breite der Gesellschaft ankommen. Dabei kann die Rechtsanwaltschaft mit Schulungen helfen. Lehrende und Erziehende sollten sich mit Rechtsfragen stärker befassen. Breitenbildung sollte von der Politik angestoßen werden. Die Medien könnten aufklärend helfen. Wir sollten uns stärker bewusst machen, wie wichtig Recht zur Stabilisierung der Gesellschaft und für faire privatrechtliche Beziehungen ist: Breite Rechtskenntnis kann die Grundlage für ein solidarisches und wirklich freies Zusammenleben bieten.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Hype um Boris Pistorius
Fragwürdige Beliebtheit
James Bridle bekommt Preis aberkannt
Boykottieren und boykottiert werden
Russischer Angriff auf die Ukraine
Tausend Tage Krieg
Kanzlerkandidat-Debatte
In der SPD ist die Hölle los
Verfassungsklage von ARD und ZDF
Karlsruhe muss die unbeliebte Entscheidung treffen
BSW stimmt in Sachsen für AfD-Antrag
Es wächst zusammen, was zusammengehört