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Gesellschaft im KrisenmodusSchluss mit dem Gejammer!

2023 sagten diverse Spitzenpolitiker:innen, man dürfe die Gesellschaft nicht überfordern. Sie verkennen, was wirkliche Überforderung ist.

Porzellanhirsch auf Wohnzimmerkommode: Jetzt ist die Lieblingsjahreszeit der Wirklichkeitsflüchtlinge, der Wohnzimmerdekorierer und Weihnachtsfilmverkriecherinnen Foto: Frank Müller/imago

E ine Freundin von mir, sie ist eigentlich ein Nachrichtenjunkie, hat seit einiger Zeit ein neues Abendritual. Statt auf dem Sofa durch die News zu scrollen, durchkämmt sie die Kleinanzeigen-App nach Möbeln. Das entspanne sie. So sehr, dass sie am liebsten auch noch meine Wohnung einrichten würde. Lieber noch eine Kommode als noch ein Koalitionsstreit.

In diesen Tagen, in denen das alte Jahr irgendwie vorbei ist, das neue aber noch nicht so richtig angefangen hat, denke ich viel an sie. Es ist die Lieblingsjahreszeit der Wirklichkeitsflüchtlinge, der Wohnzimmerdekorierer und Weihnachtsfilmverkriecherinnen. Klar haben wir diese Tage nötig, gerade in diesem Winter. Noch eine Woche das Rauschen der Welt runterdrehen, bis es wie Schneerieseln klingt.

wochentaz

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Das Rheingold Institut hat 2023 eine Studie veröffentlicht mit dem Titel „Deutschland auf der Flucht vor der Wirklichkeit“, sie basiert auf tiefenpsychologischen Interviews und einer Onlinebefragung. Die For­sche­r*in­nen diagnostizieren, dass sich immer mehr Menschen im Angesicht der politischen Herausforderungen ins Private zurückziehen. Zwei Drittel der 18- bis 65-Jährigen vertrauen der Regierung nicht. Nur 23 Prozent blicken mit Zuversicht auf die Politik. Doch das heißt nicht, dass die Menschen grundsätzlich unglücklich sind. 87 Prozent finden Zuversicht im persönlichen Umfeld.

Das For­sche­r*in­nen­team beschreibt, wie durch die Coronajahre das eigene Zuhause an Bedeutung gewonnen hat und verschönert wird. Wie Menschen sich Kraft beim Yoga holen, beim Joggen, bei der Hautpflege im Badezimmer oder beim Anlegen eines Balkongartens. Alles Bereiche, in denen die positive Wirkung des eigenen Handelns direkt sichtbar wird: das Glück des selbst abgeschliffenen Tisches, des perfekten Bananenbrots oder der neuen Bestzeit bei der Umrundung des Stadtparks.

Kollektive PTBS

Der Sozialwissenschaftler Klaus Hurrelmann hat die These aufgestellt, nach der unsere Gesellschaft vor lauter Krisen unter so etwas wie einer posttraumatischen Belastungsstörung leidet. Kollektive Erschöpfung. Wir bräuchten jetzt eigentlich Ruhe. Auch Spit­zen­po­li­ti­ke­r*in­nen von SPD bis FDP ließen zuletzt des Öfteren verlauten, man dürfe die Bürgerinnen und Bürger nicht überfordern.

Mich regt diese Überforderungsdiskussion auf. Sehr sogar. Denn die Klage der Überforderung klingt in meinen Ohren oft nach einer willkommenen Rechtfertigung für unser viel zu niedriges Tempo in der Transformation. Natürlich müssen Klimaschutzmaßnahmen sozial gerecht sein. Und dass der CO2-Preis angehoben wird, ohne mit einem Klimageld die Mehrkosten für Geringverdiener abzufedern, ist ein Konstruktionsfehler.

Aber: die Folgen der Klimakrise selbst überfordern unsere Gesellschaft eben auch. Und noch viel mehr überfordern sie Menschen, die bereits jetzt und noch deutlich spürbarer betroffen sind. Weil ihr Haus weggespült wurde oder ihre Ernte schon wieder vertrocknet ist.

Wenn es um ziviles Engagement gegen die Klimakrise geht, fällt ein Stichwort besonders oft: Selbstwirksamkeit – das Gefühl, dass das eigene Handeln etwas bewirkt. Doch wir lösen diese Krise weder auf der Yogamatte noch im Balkonbeet.

Laut der Rheingold-Studie schöpfen 60 Prozent der Befragten Kraft und Freude daraus, Teil einer sozialen Gemeinschaft zu sein. Vielleicht wäre ein erster Schritt, bei einem Solidarische-Landwirtschafts-Projekt mitzumachen, statt nur die eigenen Tomaten zu hegen. Oder einer Bürger-Energie-­Genossenschaft beizutreten, statt sich ­dicke Socken zu stricken. Klingt anstrengend? 2024 ist es Zeit für ein bisschen Überforderung.

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Luise Strothmann
Leitung zukunft
Kam 2009 als Volontärin zur taz, war ab 2010 Redakteurin der Wochenendausgabe und seit 2016 deren Vize-Ressortleiterin. Dort betreute sie die Titelgeschichten. Für ihren Text "Das Ende der Angst" bekam sie 2015 den Medienpreis der Deutschen Aids-Stiftung, für eine Langstrecke über männliche Verhütung war sie für den Reporter*innenpreis in der Kategorie Wissenschaftsjournalismus nominiert, außerdem wurde sie zweimal vom Medium Magazin ausgezeichnet. Sie arbeitete am Innovationsreport der taz mit, war knapp zwei Jahre verantwortlich für die Weiterentwicklung der taz im Netz und ein Jahr lang Entwicklungsredakteurin der Chefredaktion für Reportage und Recherche im taz-Investigativteam. Seit 2022 leitet sie das neue Zukunftsteam der wochentaz zu Klima, Wissen und Utopien und ist Mitautorin des Newsletters TEAM ZUKUNFT. Luise Strothmann unterrichtet Reportage an der katholischen Journalistenschule ifp, ist in der Auswahlkomission der Nannenschule und Teil der Jury des Egon-Erwin-Kisch-Preises.
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1 Kommentar

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  • Danke, das ist sehr erfrischend, und ermutigend!

    "Und noch viel mehr überfordern sie Menschen, die bereits jetzt und noch deutlich spürbarer betroffen sind. Weil ihr Haus weggespült wurde oder ihre Ernte schon wieder vertrocknet ist."

    In 2 kurzen Sätzen ein Riesenfass aufzumachen, ist durchaus eine Kunst.