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Geschlossene Schlagbäume im WestenDeutscher Grenzfetisch

Die Kontrollen wegen Corona zerreißen eng verflochtene Nachbarländer. Die Maßnahmen nützen niemandem und zerstören Vertrauen.

Absperrband der Polizei liegt auf der Brücke zwischen Kleinblittersdorf und Grosbliederstroff Foto: Oliver Dietze/dpa

E s ist ein Stück aus dem Tollhaus, das an Deutschlands Grenze zu den westlichen Nachbarn aufgeführt wird. Im Saarland, das in Jahrzehnten eine beispielhafte grenzübergreifende Zusammenarbeit mit Frankreich entwickelt hat, sind Städte und Gemeinden plötzlich durch Grenzen zerrissen, die seit mehr als zwei Jahrzehnten gar nicht mehr wahrgenommen worden sind. Nicht selten verläuft die Demarkationslinie mitten durch Ortschaften. Wer jetzt zu seinen Verwandten „drüben“ will, muss den Grenzern entwischen – sonst wird ein Bußgeld fällig. Offizielle Grenzübergänge sind verrammelt, weil für Kontrollen das Personal fehlt.

An den Übergängen sortieren Deutsche in Uniform: Franzosen und LuxemburgerInnen, die zur Arbeit wollen, dürfen durch; wer einkaufen oder gar Freundschaften pflegen will, muss draußen bleiben. Bürgermeister auf der luxemburgischen Seite setzten aus Protest die Europafahne auf Halbmast.

In Luxemburg funktioniert das Gesundheitssystem, die Regierung managt die Pandemie nicht schlechter, und die Infektionszahlen sind nicht höher als am anderen Moselufer. Deutschland stilisiert mit seinem Grenzregime die Nachbarn zur Infektionsgefahr. Es spielen sich hässliche Szenen ab, etwa wenn Besucher aus Frankreich beschimpft oder sogar bespuckt werden.

Am Wochenende haben maßgebliche PolitikerInnen in überparteilichem Gleichklang die Öffnung der Grenzen zumindest nach Frankreich und Luxemburg gefordert. Bundesinnenminister Horst Seehofer will aber erst ein „Konzept“ entwickeln. Bis dahin soll es beim Grenzmanagement bleiben, das Betroffene als konzeptlos empfinden.

Wenn der Bundesinnenminister sich vorstellen kann, in einer Woche neue Regelungen in Kraft zu setzen: Warum nicht gleich? Dazu haben ihn jedenfalls die MinisterpräsidentInnen von Nordrhein-Westfalen, Rheinland-Pfalz und dem Saarland aufgefordert. Zögert er, muss er sich „Grenzschutz-Fetischismus“ vorwerfen lassen. So hat der luxemburgische Außenminister Jean Asselborn diese Haltung kritisiert, die niemandem nützt und dabei Vertrauen zerstört.

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Christoph Schmidt-Lunau
Autor
Von 2016 bis 2024 taz-Korrespondent für Hessen, Rheinland-Pfalz und das Saarland. Davor u.a. Moderator, Reporter und CvD bei SWF3 sowie Programmdirektor von radioffn, 15 Jahre lang Landtagskorrespondent für den Hörfunk von hr und ARD, gleichzeitig Autor für den Tagesspiegel 1980 Dipl.Soz. und Wiss. Mitarbeiter Goethe Uni Frankfurt
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4 Kommentare

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  • 100% Zustimmung und wenn man hört, wie hier Franzosen behandelt werden, auch von der Polizei, kann man sich nur noch schämen.

    "Im Elsass liegen die Nerven blank. Franzosen werden in deutschen Supermärkten und an Tankstellen angepöbelt, an den Grenzen stecken Pendler in langen fragwürdigen Kontrollen fest. Die Stimmung verschlechtert sich. Bürgermeister von „hiwwe und driwwe“ sehen die deutsch-französische Freundschaft in Gefahr und wehren sich in einem flammenden Appell."

    bnn.de/nachrichten...orona-anfeindungen

    Da machen Arschlöcher die Arbeit von jahrzehntelanger Völkerverständigung in Wochen kaputt!

  • Sorry, ich bin da anderer Meinung.

    Eine der Massnahmen, die diese Pandemie halbwegs "beherrschbar" macht ist die Einschränkung der Mobilität.

    Optimal wäre es, wenn sie kleinteilig und jeweils dem Pandemiegeschehen angepasst geschehen könnte. Dafür haben wir das Instrumentarium nicht [1].

    Ländergrenzen haben wir aus einer schlechteren Zeit "geerbt", (die --hoffentlich-- nie, nie wiederkehrt). Hätte die EU vorher die regionalen Zusammenhänge gestärkt (Alsace - Baden, z.B. oder Brandenburg - Lubuskie), dann könnten wir's anders machen. Aber die Nationen hätten an Bedeutung verloren, so...

    Hätte, Fahrradkette.

    Das Problem an diesen Massnahmen ist, dass sie nur in der Gesamtheit, und nur statistisch wirken (und man weiss nicht einmal genau wieviel und bis wohin). Jede/r betrachtet sich selbst als Ausnahme ("aber ich will an meine Datscha", "aber ich will keine Maske", "aber ich will billige Arbeiter aus Bulgarien", "aber ich will meine französischen Nachbarn"... etc.).

    Dann können wir es alle einfach lassen und zu Bolsonaro nach Brasilien gehen. Dort ist's nur eine Grippe (Gräber gibt es halt ein paar mehr als sonst).

    [1] Ich erinnere an den [zensiert] Menschen, der sich in der Hochphase des Lockdowns den Zugang von Berlin aus zu seiner Datscha in Brandenburg erklagt hat, um dann munter mit dem Auto zu pendeln.

  • "Deutscher Grenzfetisch" ???

    Das ist Seehofers Grenzfetish - und von Betonköpfen die diese Denke teilen.

    Schon vor Wochen haben Wissenschaftler gesagt, das die geschlossenen Grenzen zu Ländern mit ähnlichen Zahlen nichts bringen.

    Aber hey, Endlich geschlossene Grenzen, endlich Obergrenzen! So fühlt ein Seehofer sich wohl. Nur umgeben von der eigenen virenreinen Rasse.

  • "Geschlossene Schlagbäume im Westen



    Deutscher Grenzfetisch



    Die Kontrollen wegen Corona zerreißen eng verflochtene Nachbarländer. Die Maßnahmen nützen niemandem und zerstören Vertrauen.“



    Sehr treffend und auf den Punkt gebracht, Herr Schmidt-Lunau!



    Ich lebe seit 25 im Grenzgebiet Grand Est. Mein Sohn arbeitet in Luxembourg. Plötzlich Schlagbäume und Grenzkontrollen, um zur Arbeitsstelle nach Luxembourg zu kommen, nicht selten steht man 1 bis 2 Stunden und wartet, dass die deutschen Grenzbeamten einen über die Grenze lassen. Die deutschen Grenzbeamten möchte ich damit nicht verurteilen, es ist nicht ihre Entscheidung gewesen. Aber einen Herrn Seehofer spreche ich da jeglichen Sachverstand ab.