Geschichte des Arbeitersports: Rote Radler machen Druck
Mit aktuellen Weltmeistern feiert der RKB Solidarität seine Gründung im Jahr 1896. Er ist einer der wenigen Arbeitersportverbände, die es noch gibt.
Eine mögliche Zukunft des deutschen Arbeitersports ist 19 Jahre alt, lebt in der Nähe von Rosenheim und wurde vor wenigen Wochen Europameisterin. Jana Pfann tritt für den RKB Solidarität Bruckmühl an, studiert Eventmanagement und konnte bei der EM im Juni 2022 in Ungarn im Einer-Kunstrad gewinnen. Ihr Verband ist der Rad- und Kraftfahrerbund Solidarität, der an diesem Wochenende seinen 125. Gründungstag feiert, bedingt durch die Covid-Pandemie mit einem Jahr Verspätung. Tatsächlich wird im RKB, von der Sportöffentlichkeit kaum bemerkt, bis zum heutigen Tag Weltklassesport betrieben.
Ralf Beduhn, Historiker
Der RKB ist einer von nur zwei Verbänden des Arbeitersports, die heute noch existieren. 1933 wurden alle vom NS-Regime zerschlagen, nach 1945 wurden nur die Naturfreunde und der RKB wiedergegründet. Der RKB Solidarität war eine heute kaum vorstellbare Macht, „stärker als die bürgerlichen Radsportverbände zusammen“, sagt der Historiker Ralf Beduhn, dessen Standardwerk „Rote Radler“ von 1982 jetzt wiederaufgelegt wurde. 329.000 Mitglieder waren es 1930, davon 45.000 Frauen. 1896 gründete sich der Verband in Offenbach, unter anderem weil Arbeitern „der Beitritt in die bereits bestehenden radsportlichen Verbände immer mehr erschwert oder unmöglich gemacht wird“. Alles, was mit bürgerlichem Rekordstreben verbunden war, galt im Arbeitersport als höchst suspekt.
„Arbeitersport, das ist für mich am ehesten das, wozu man heute Breitensport sagt“, meint Jana Pfann. Für sie sei es schon wichtig, Rekorde zu fahren und Wettbewerbe zu gewinnen, sagt sie, „aber ich finde es trotzdem schön, wenn manche den Sport nur aus Freude machen wie ich zum Beispiel Volleyball“.
Milena Slupina ist schon länger dabei. 2017, 2019 und 2021 wurde sie Weltmeisterin im Einer-Kunstrad, 2018 Vizeweltmeisterin, Europameisterin, mehrfache Deutsche Meisterin ist die 27-Jährige vom TSV Bernlohe bei Roth in Franken. Ihre aktive Karriere hat sie gerade beendet, nun fängt sie für den RKB Solidarität als Co-Bundestrainerin an. Auch für sie hat das, was beim Wort Arbeitersport mitschwingt, heute keine große Bedeutung mehr. „Ich selbst bin ja im Leistungssport gelandet“, sagt sie. „Doch ich erlebe in den Vereinen und im Verband, dass es beides gibt: dass die gefördert werden, die das Beste aus sich herausholen wollen, aber dass es auch Breiten- und Freizeitsport gibt. Die Kombination macht’s.“
Sieg im Saal
Schon in den zwanziger Jahren hat sich nur eine Minderheit der Mitglieder auf Wettkämpfe orientiert: 1 bis 2 Prozent im Straßen- und Bahnradsport, etwa 10 Prozent im Saalrad. Schwerpunkt des RKB Solidarität waren gemeinsame Ausfahrten und linke Politik. In Offenbach errichteten die Arbeitersportler die genossenschaftlich organisierte Fahrradfabrik Frischauf, um Räder erschwinglich zu machen. Eine Notfallunterstützung für Arbeitslose wurde aufgelegt, günstige Wohnungen wurden gebaut. Auch verkehrspolitische Initiativen gingen von dem Verband aus: Schon 1926 wurden Radwege gefordert, und als 1928 eine Fahrradsteuer drohte, protestierte der RKB. „Im Grunde war der RKB vor 1933 der heutige ADFC plus Klassenkampf“, sagt Beduhn, dem Allgemeinen Deutschen Fahrrad-Club von heute fehle indes ein gesellschaftspolitisches Profil.
Während Spitzensportlerinnen wie Jana Pfann und Milena Slupina den RKB gerne leistungssportlicher ausgerichtet sähen, kritisiert Ralf Beduhn den Verband von der anderen Seite: „In den achtziger Jahren hat die Soli die Riesenchance verpasst, sich massiv in Fahrradtouristik einzubringen.“ Den damaligen Fahrradboom hätte man nutzen müssen, auch wegen der Umwelt. „Aber die Funktionäre haben auf ihren Saalradsport gesetzt.“
Straßen- und Bahnradsport, die medial deutlich besser aufgestellten Sparten dieses Sports, werden beim RKB schon lange nicht mehr betrieben. Darum kümmert sich die bürgerliche Konkurrenz vom Bund Deutscher Radfahrer (BDR). Was es an Spitzensport beim RKB gibt, ist Radpolo, Kunstrad, Radball und der Rollsport auf Rollschuhen. „Es ist kein Fehler, Saalradsport anzubieten, aber es ist ein Fehler, sich darauf zu fokussieren“, sagt Beduhn. „Das ist eine Orchideensportart.“ Die war es allerdings schon in den zwanziger Jahren, aber bei der 1. Arbeiterolympiade 1925 in Frankfurt am Main gehörten Kunstradfahren und Radball ganz selbstverständlich zum Programm. Nach 1933 gingen etliche RKBler in den Widerstand. Die Fahrradfabrik Frischauf, in der auch Motorräder hergestellt wurden, wurde von den Nazis 1933 beschlagnahmt.
Die SS klaute dort etwa 500 Motorräder und Tausende Fahrräder, auch die Bestände der verbotenen RKB-Vereine wurden geplündert. Die Räder gingen an Vereine des BDR, der im Deutschen Radfahrer-Verband aufgegangen war. Viele Eisenbahn-, Post- und Polizeisportvereine und auch SS, SA und Hitlerjugend gründeten schnell Radabteilungen und gelangten so kostenlos an Räder.
Zoff mit dem Sport-Bund
1945 verbot der Alliierte Kontrollrat alle Sportvereine in Deutschland. Doch wie bedeutend der RKB Solidarität war, zeigt diese Episode: Weil noch massenhaft Briefmarken mit Adolf-Hitler-Porträt rumlagen, wurde eine Teilauflage mit dem Wappen des „ARB Solidarität“ überdruckt. Erst jüngst fand ein RKB-Mitglied, das auch Philatelist ist, diese seltenen Drucke.
Der BDR hingegen hatte für eine Wiederzulassung besonders schlechte Karten: Sein Präsident von 1938 bis 1945, Viktor Brack, wurde als einer der Organisatoren der Euthanasieprogramme 1948 hingerichtet. Dennoch: Im Jahr 1948 gründete sich der BDR neu. Im Sport ging es mit der Restauration schneller als anderswo.
Unter den Arbeitersportlern votierte die Mehrheit für den Einheitssport: die bürgerlichen Fachverbände auf der einen, Landessportbünde, die als demokratisches Regulativ wirken sollen, auf der anderen Seite. Anders als bei den Arbeiterturnern oder -fußballern setzte man beim RKB jedoch auf Wiedergründung des alten Verbands – und hatte sofort die Konkurrenz des BDR am Hinterrad. Mehrfach versuchte der RKB, in den Deutschen Sportbund (DSB) aufgenommen zu werden. 1954 lehnte der Bundesgerichtshof das ab. Dabei hatte der RKB Solidarität damals ähnlich viele Mitglieder. Das änderte sich bald, und 1967 drohte der BDR-Präsident den RKB-Kollegen sogar: Sie sollten sich „bedingungslos unterwerfen“, und: „Zugeständnisse werden nicht mehr gemacht.“
Erst 1977 zwang der Bundesgerichtshof den DSB, endlich den RKB Solidarität aufzunehmen, und zwar als „gleichberechtigten Sportfachverband“. Ein großer Erfolg. Aber, sagt der Historiker Beduhn, „der RKB hat die Chance nicht genutzt, sondern sich als ‚Verband mit besonderer Aufgabenstellung‘ zufriedengegeben“. Viele RKB-Sportler seien zum BDR übergetreten. Mittlerweile hat der RKB etwa 40.000 Mitglieder, der BDR mehr als 140.000.
„Eher ein Freizeitverband“
Die Beziehungen zwischen BDR und RKB sind bis heute angespannt. Der BDR vertritt den deutschen Radsport international, und über das Verhältnis zu den Arbeitersportlern teilt eine Sprecherin der taz mit: „Der RKB ist – außerhalb des Hallenradsports – doch eher ein Freizeitverband.“ Im Hallenradsport aber beruft jeder Verband seinen eigenen Kader, stellt seine eigenen Bundestrainer ein und unterhält eigene Bundesstützpunkte. C- und B-Trainer werden von jedem Verband selbst ausgebildet, und wer den hochwertigen A-Trainerschein machen will, muss sich an den BDR wenden. Und wenn eine EM oder WM ansteht? „Es werden – bei entsprechendem Leistungsnachweis – auch Sportler des RKB für internationale Wettkämpfe berücksichtigt“, teilt der BDR mit.
Über Pfanns Europameistertitel hieß es dann in einer BDR-Pressemitteilung, sie habe Gold „für den BDR“ gewonnen. Pfann findet es schade, dass dort nicht erwähnt wurde, dass in ihrem Wettbewerb Gold und Silber an RKB-Sportlerinnen gingen. Auch dass der BDR nichts repostet hat, was die RKB-Sportler auf Instagram geschrieben haben, bedauert sie.
Von manchen hört man, dass der BDR die Sportler, auch die in der Halle, besser fördere. Kein Wunder, sagt der Kritiker Ralf Beduhn: „Der BDR hat wesentlich mehr Finanzmittel, sein Zugpferd ist der Radrennsport, das sind nicht die Kunstradfahrer.“ Die jährlichen Bundesmittel für den Hallenradsport betragen gerade mal 26.000 Euro.
Dass die viel zu geringe öffentliche Beachtung ihrer Sportart aber an der Konkurrenz der zwei Verbände liegt, glauben weder Jana Pfann noch Milena Slupina. „Hallenradsport ist nicht olympisch“, nennt Slupina einen Grund, so habe der Sport nicht einmal alle vier Jahre die Möglichkeit, sich einem großen Publikum zu präsentieren. „Ein weiterer Grund könnte sein, dass wir reine Amateure sind.“ Slupina selbst arbeitet in Vollzeit als Maschinenbauingenieurin.
Jana Pfann klagt: „Es wird leider immer weniger. Man merkt es auch an anderen Nationen, da gibt es kaum noch Kunstradfahrer. Nur noch Deutsche, Schweizer und Österreicher.“ Sie hofft auf die WM 2023 in Glasgow. Die wird erstmals als Multiradsport-WM ausgetragen: Straße, Bahn, BMX, Mountainbike, Paracycling und eben auch der gesamte Hallenradsport. „Vielleicht fallen wir da stärker auf.“
Das ist die eine Hoffnung für die Zukunft des Arbeitersports. Die andere formuliert Ralf Beduhn. „Ob der RKB Solidarität seine weitere Existenz sichern und wieder an Bedeutung zulegen kann, wird davon abhängen, ob man in der Lage ist, die Tür aus der Kunstradsport-Halle aufzustoßen und mitzumischen in der Sphäre des Freizeitsports und der Radtouristik.“
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