Georg Stefan Troller über sein Leben: „Ich darf nicht verzeihen“
Der Autor, Journalist und Filmemacher Georg Stefan Troller hat in seinem Werk die Möglichkeiten des Menschen ausgelotet. Nun ist er hundert geworden.
taz: Herr Troller, Sie haben in Interviews immer wieder gesagt, Sie seien nie Sie selbst gewesen. Was haben Sie versteckt?
Georg Stefan Troller: Wahnsinnige Komplexe! Erstens, weil ich so hässlich war als Kind und zweitens, weil ich Jude war. Und weil einen die ganze Umwelt, auch die, die dir freundlich gesinnt war, unbewusst als anders eingestuft hat. Und der Andere ist typisch – was immer das bedeuten sollte. Aber dieses Wort typisch hat mich markiert als Kind. Es bedeutete natürlich typisch jüdisch. Warst du gut im deutschen Aufsatz, aber schlecht im Turnen? So wurde jüdische „Leibfeindlichkeit“ mit dem Wunsch, sich der Mehrheit anzugleichen, zusammengelegt. Du hast dich also als Deutscher fühlen wollen, um mit der Mehrheit mitlaufen zu dürfen. Aber in Wirklichkeit warst du ein „leibfeindlicher“ Jude. Ja und dann noch die Emigration, die natürlich eine völlige Aufgabe des Selbstwertgefühls bedeutet. Und das über Jahre hinweg. Und die Angst. Man ist ja nicht stolz darauf, dass man Angst hat.
Wie lange wollten Sie Deutscher sein?
Noch immer. Deutscher Dichter, deutscher Literat, deutscher Filmemacher. Warum es ableugnen? Dieser Drang, natürlich auch zur deutschen Sprache, hat mich ja dahin gebracht, wo ich dann in Gottes Namen gelandet bin.
flüchtete als Jugendlicher vor den Nazis aus Wien. Mit der US-Armee kehrte er nach Europa zurück. In den 1960er Jahren faszinierte er das deutsche Publikum mit seiner Serie „Pariser Journal“ im WDR. Ab 1971 schrieb er Filmgeschichte mit seinen dokumentarischen „Personenbeschreibungen“ für das ZDF. Trollers subjektive Berichterstattung sowie seine Fähigkeit, mit seinen Interviews zum Kern der Menschen vorzudringen, wurde ein Vorbild für viele Journalist:innen.
Vor zwei Jahren stand unser Autor schon einmal in Trollers Pariser Dachgeschosswohnung, musste aber, weil doppelt gebucht, unverrichteter Dinge wieder abziehen. Am 1. Dezember dieses Jahres fand das Gespräch dann statt, bei Kaffee und Kuchen – und mit Trollers Kater Foxy auf dem Schoß.
Haben Sie sich schuldig gefühlt, weil Sie Deutscher sein wollten?
Auch das. Man ist dem deutschen Schicksal entronnen. Hatte man das Recht, sich abzusetzen? Ach wissen Sie, das sind alles so zu missbilligende Gefühle, zu denen man nicht gerne steht, aber es stimmt schon irgendwie, ja. Stellen Sie sich vor: Irgendwo im Elsass, wir hatten eine ganze Gruppe „grauer Mäuse“, also deutsche Soldatinnen gefangen genommen – Weihnachten 44. Und die lagerten dann in einer Scheune auf Stroh und sangen deutsche Weihnachtslieder. Schöne Mädchen, deutsche Weihnachtslieder. Und da ist der Troller, der im Eingang steht und sich das anhört. Und was fühlt der?
Und was fühlte er?
Das ist gar nicht zu beschreiben.
Haben Sie sich später noch mal in eine Deutsche verliebt?
Ja. Immer!
Immer?
Na nicht immer, aber häufig ja. Das war auch wieder ein Stück… ersehnte Wiedergutmachung. Von einer deutschen Frau geliebt zu werden ist ja dann ein Stück… Bekehrung oder so. Man hat sie den Nazis abspenstig gemacht und hat sie dazu gebracht, dich, den Juden, zu lieben. Das ist doch schön. Na ja, die Frau sagte mir dann, eigentlich liebst du mich ja gar nicht, du liebst ja nur deine Rückkehr, die in mir personifiziert ist. Und das wars wohl auch …
Haben Sie den Deutschen und den Österreichern verziehen?
Oh, das ist kein Wort, das ich verwenden würde. Ich darf nicht verzeihen. 19 Mitglieder meiner Familie sind ermordet worden. Was habe ich zu verzeihen? Das ist ja unmöglich.
Das dürfen Sie nicht.
Nein. Sich abgefunden haben, es hinnehmen, sich sagen, die Jungen können ja nichts dafür. Und so weiter. Ja. Aber es geht nicht ums Verzeihen. Dazu habe ich kein Recht.
Hätten Sie gerne verziehen oder das Recht dazu gehabt, zu verzeihen?
Verstehen, ja, verzeihen, nein.
Es geht heute viel um uralte Unrechtsregime, die jetzt aufgearbeitet werden. Glauben Sie, da muss verziehen werden? Also glauben Sie, die Jahrhunderte Rassismus und Sexismus müssen oder können verziehen werden?
Verziehen? Ich weiß nicht genau, was man darunter verstehen soll. Die Leute verzeihen sich selber sehr leicht. Ist damit irgendetwas bewiesen? Nein, das glaube ich eher nicht. Verstehen! Verstehen wäre Voraussetzung für ein echtes Verzeihen. Und wie viele Leute verstehen schon etwas?
Wie können Journalist:innen dazu beitragen, dass sich die Menschen gegenseitig verstehen?
Na ja, ich habe es versucht … auf meine Art. Von den Hunderten von Leuten, mit denen ich Interviews gemacht habe, stimmen ja nicht zwei miteinander überein. Jeder hat genau seine Überzeugung gehabt, sein Leben gelebt, sich selbst so und so eingeschätzt, immer anders. Und meine Aufgabe war, das nicht zu verdammen, sondern wertzuschätzen. Es zu begreifen und als menschliche Möglichkeit dem Publikum rüberzubringen. Das war mein Ansatz: Die Leute sollten sich am Anfang des Films sagen: Oh Gott, was bringt der Troller hier wieder für Typen heran. Und am Ende, 30 Minuten später: Aber … das bin ja ich!
Und ist das die Aufgabe von gutem Journalismus?
Der Art, wie ich ihn begreife. Ich bin ja kein politischer Journalist. Aber ja, dass die Leute das, was sie vorher als fremd oder feindlich ablehnen, am Ende in sich selber entdecken.
Muss man als Journalist versuchen, gerade die Leute den Menschen nahezubringen, die man eigentlich am meisten verabscheut?
Absolut, absolut. Wenn du sie nicht verstehst, kannst du sie auch nicht fertigmachen.
Aber Sie haben fast keine Nazis interviewt.
Abrechnungen haben mich nicht interessiert.
Die Gesellschaft, heißt es manchmal, bewege sich immer weiter auseinander. Gerade wird darüber am Fall der Menschen gestritten, die sich nicht gegen Covid-19 impfen lassen wollen. Wäre es Aufgabe des Journalismus, auch diese Leute verständlich zu machen?
Absolut! Übrigens, hier in Frankreich ist eine rechtsextreme Welle, die alles Deutsche in den Schatten stellt. Die haben hier jetzt über 30 Prozent extreme Rechte mit Le Pen und Zemmour. Und der ist noch dazu ein Jude. Ich habe das Gefühl, dass wir jetzt wieder in die 30er Jahre eintreten. Einen Typ wie Zemmour hat es bis vor einem Jahr nicht gegeben. Das ist völlig neu. Erzreaktionär, ein französischer Nazi, Jude, hässlich bis dahinaus und hat auf Anhieb 15 Prozent der Bevölkerung hinter sich.
Würden Sie ihn gerne interviewen?
Sehr gerne, ja! Aber der würde mich in Grund und Boden reden. Der ist zu clever, der ist ja Schriftsteller.
Was würden Sie ihn fragen?
Ja… was will der Mann zutiefst? Schön werden, weil er sich als so hässlich empfindet. Durch Wort und politische Tat sich schön machen. Ja, das spüre ich hinter dieser Figur. Das ist interessant und es ist unsere Aufgabe, das zu zeigen: die ursächlichsten Ursachen, warum jemand so ist, wie er ist. Das ist doch faszinierend.
Wussten Sie in Ihren Interviews immer schon vorher, worauf Sie hinauswollten?
Nein. Naja, sagen wir mal, ich habe eine Vorstellung. Aber ich lasse mich überzeugen, dass diese Vorstellung ein Unsinn war und dass dahinter etwas ganz anderes steckt. Und da bin ich auch zufrieden damit, wenn mir jemand das bringt. Aber ja, meistens habe ich eine Vorstellung. Was die eigentlichen Motivationen des Menschen sind.
Gibt es für Sie objektiven Journalismus?
Nein. Objektive Wahrheit gibt es nirgendwo. Eine Approximation gibt es und eine persönliche, an die man selber glaubt, das gibt es ja. Aber ist sie die objektive Wahrheit? Das weiß ich nicht.
Muss man als Journalist auch erfinden?
Ja! Gut erfunden ist mindestens so überzeugend wie schlecht gelebt. Ich habe in all meinen Büchern immer fiktive Interviews – manchmal als solche deklariert, manchmal nicht. Und das gehört auch dazu. Das Interview ist eine Erzählform wie die Novelle und kann als solche als eine andere Art von Fiktion eingestuft werden.
Aber ist es nicht unsere Aufgabe, die Realität wiederzugeben, zu sagen, was ist?
Das stellt sich dabei möglicherweise eher heraus. Die eigentlichen Wahrheiten sind ja nicht als Daten verfügbar, sondern sind undeutlich, verwirrend, unerkannt oder halb erkannt usw. Wer weiß denn schon wirklich 100-prozentig die Wahrheit über sich selber? Nur Schwindler behaupten das … oder Psychoanalytiker.
Glauben Sie, die subjektive Berichterstattung, die Sie gemacht haben, war letztlich ehrlicher als die vermeintlich objektive, die gefordert war?
Es muss beides da sein. Aber ich stehe für meine Art des Filmemachens. Es kommen halt andere Wahrheiten dabei heraus. Aber es sind ja auch Wahrheiten, nur nicht Meinungen. Es ist eben nicht Meinungsjournalismus. Das hat mich nie interessiert, was einer meint, ist eigentlich wurscht. Erst einmal muss ich wissen, warum er das meint, warum er diese Überzeugungen hat, woher die kommen.
Wenn Sie wirklich etwas verstanden haben, wenn Sie einen Menschen voll und ganz verstehen, dann geht damit einher, dass Sie einem Menschen verzeihen?
Glauben Sie das? Es gibt einen berühmten französischen Satz dazu. „Tout comprendre c’est tout pardonner“, lautet er. Alles verstehen heißt alles verzeihen. Ich bin nicht der Auffassung, nein. Ich hatte als Nietzscheaner immer sehr viel Verständnis für die Nazis. Ja, was da dahinter war, konnte ich nachvollziehen. Aber verzeihen … Nein. Das Misstrauen gegenüber dem menschlichen Drang, sich einer Ideologie anheimzugeben und zu glauben, dass man auf diese Weise ein erfülltes Leben führt. Und darum geht es letztlich. Ideologieglauben heißt, sich einzureden, man lebt ein richtiges Leben, und das kann ich nicht nachvollziehen und auch nicht verzeihen.
Also haben Sie die Nazis auch nicht verstanden?
Doch, verstanden habe ich es. Es kommt ja jetzt wieder auf uns zu. Die Sehnsucht nach Erlösung … von was? Ein Übermensch wie Trump muss uns in die Erlösung leiten? Was heißt denn das? Was wollen die Leute? Sie sind irgendwie unzufrieden mit dem modernen Leben. Das System kann sie nicht erfüllen, da fehlt etwas und das, was fehlt, ist der Glaube. Es ist ja heute alles auf Intellekt abgestellt. Der Glaube ist jenseits dessen. Indem man glaubte, konnte man sich als ein erfüllter Mensch empfinden, der richtig lebt und so weiter. Das ist uns mehr oder weniger überall verloren gegangen und ersetzt worden durch materielle Güter, durch Ehrgeiz, durch Geschäft, durch Geld, durch Sport, Sexualität, was immer einen heute befriedigt. Aber irgendwo bleibt ein tiefer Drang nach Glaube.
Und woran glauben Sie?
Ich bin gottgläubig und ich glaube, dass der Mensch – obwohl es manchmal so aussieht – nicht verloren ist, dass er sich immer wieder finden wird und auf seinem Weg voranschreiten.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Hoffnung und Klimakrise
Was wir meinen, wenn wir Hoffnung sagen
Spiegel-Kolumnist über Zukunft
„Langfristig ist doch alles super“
Rechte Gewalt in Görlitz
Mutmaßliche Neonazis greifen linke Aktivist*innen an
+++ Nachrichten im Ukraine-Krieg +++
Slowakischer Regierungschef bei Putin im Kreml
Lohneinbußen für Volkswagen-Manager
Der Witz des VW-Vorstands
Fortschrittsinfluencer über Zuversicht
„Es setzt sich durch, wer die bessere Geschichte hat“