Gehorsam und Corona: Macht Disziplin Staat?
Die Politik beschwört in der Coronapandemie die Disziplin – mit wenig Erfolg. Beherrscht wird sie von ganz anderen Akteuren als dem Staat.
Viel ist in diesen Tagen von ihr die Rede. Bundeskanzlerin Angela Merkel appelliert fast täglich an die der Bürger. Die Disziplin, einst als Sekundärtugend abgetan, feiert in der Coronapandemie eine Rückkehr. CDU-Chefin und Bundesverteidigungsministerin Annegret Kramp-Karrenbauer twitterte kürzlich: „Disziplin ist Ausdruck von Verantwortung.“
Bereits im März mahnte AKK: „Wer keine Ausgangssperre will, muss Disziplin wahren.“ Allein, die Ordnungsrufe sind in dem kasernenhofähnlichen öffentlichen Raum weitgehend verhallt. In Leipzig demonstrierten Tausende ohne Maske, Hunderte am vergangenen Wochenende in Frankfurt am Main, in den Innenstädten gehen die Coronapartys weiter.
Ist die Disziplinargesellschaft also in der Krise? Wenn man sieht, mit welcher Diszipliniertheit Menschen ihre Smartphones checken, ahnt man, dass die Technologie der Macht, wie Foucault es nannte, präsenter denn je ist – sie wird nur von ganz anderen Akteuren als dem Staat beherrscht.
2.617 Mal am Tag, haben Analysten 2016 nachgezählt, berührt ein Nutzer sein Handy. Niemand zwingt einen dazu, Status-Updates anzuschauen oder eingehende Nachrichten zu beantworten. Trotzdem tut man es. Mit psychologischen Tricks und Stimuli ist es den App-Entwicklern gelungen, unser Gehirn zu hacken, unsere Aufmerksamkeitskonten zu ökonomisieren, uns das Gefühl zu geben, als müssten wir uns alle paar Minuten beim digitalen Pförtner melden.
Nach Foucault ist die Disziplin nicht nur eine Technik, die die Körper unterwirft und gefügig macht, sondern auch produktiv. „Die Disziplin steigert die Kräfte des Körpers (um die ökonomische Nützlichkeit zu erhöhen) und schwächt diese selben Kräfte (um sie politisch fügsam zu machen.)“ So formiere sich „eine Politik der Zwänge, die am Körper arbeiten, seine Elemente, seine Gesten, seine Verhaltensweisen kalkulieren und manipulieren.“
Kontrolle und Manipulation
Die Beobachtung ließe sich auf die Smartphone-Nutzung übertragen: Auch da arbeiten Zwänge am Körper, werden Verhaltensweisen kontrolliert und manipuliert. Man fragt sich zuweilen, welche Kräfte auf die Menschen wirken, die krampfhaft auf ihr Smartphone starren – seit einigen Jahren warnen Orthopäden vor dem „Handy-Nacken“! Welche „politische Anatomie“ oder „Mechanik der Macht“ also, wie Foucault es nannte, hier am Entstehen ist.
Es ist erstaunlich: Wo sich radikalisierte Impfgegner gegen eine Unterwerfung des Körpers zur Wehr setzen und den Körper als letztes Bataillon gegen einen biopolitisch übergriffigen Staat in Stellung bringen, lassen Millionen Menschen freiwillig ihre Datenkörper von einer profitorientierten Digitalindustrie dressieren, kontrollieren, manipulieren.
Das Interessante ist, dass sich Individuen wie auch die Massen durch digitale Disziplinartechniken viel effizienter steuern lassen als mit dem traditionellen „Besteck“ des Verwaltungsstaats wie Gesetzen, Verordnungen oder Bußgeldern.
Der Soziologe Grégoire Chamayou beschreibt in seinem Buch „Die unregierbare Gesellschaft“ (2018), wie in den 1970er Jahren mit dem Siegeszug des Neoliberalismus eine „neue Kunst der Arbeitsführung“ erfunden wurde. Das Management in den Automobilfabriken wusste sich gegen die zunehmende Disziplinlosigkeit der Arbeiter nur mit einer Verschärfung der Disziplinarordnung und Sanktionen zu helfen, die allerdings das Fehlverhalten nicht einhegten, sondern Konflikte im Gegenteil noch schürten. Also setzte man auf mehr Autonomie und führte Formen der Selbstverwaltung in der Belegschaft ein. An die Stelle des Kollektivs trat das unternehmerische Selbst.
Jeder ist für sich selbst verantwortlich
Der digitale Kapitalismus hat den Gedanken des Selbstmanagements radikal vorangetrieben. Jeder ist heute selbst für sich verantwortlich: für seine Ernährung, Fitness, Bildung etc. Und damit auch für seine Disziplinlosigkeiten. Wo der Einzelne dick wird, macht er sich selbst und seine gescheiterten Ernährungspläne verantwortlich und nicht die Tricks der Lebensmittelindustrie oder die Versäumnisse der Politik. Disziplin ist heute vor allem Selbstdisziplin.
Aus der Perspektive des Neoliberalismus ist dieses Selbstmanagement eine tolle Sache, weil Verantwortung auf den Einzelnen abgewälzt wird und der Raum des Politischen schrumpft, der Unternehmen (etwa durch Regulierung) gefährlich werden könnte.
Diese Individualisierung von Verantwortung hat jedoch Implikationen für das politische System: Denn wo es nur noch selbstoptimierende Ich-AGs gibt und das Kollektiv zerbröselt, können auch keine allgemeinverbindlichen Regeln mehr hergestellt werden.
Politik funktioniert immer häufiger nur noch als Privatregierung, als Selbstmanagement: Man gibt dem Einzelnen Ziele, wie 10.000 Schritte am Tag zu gehen, und bietet ihm dafür Bonifikationen wie Gutscheine. Das Kollektivgut öffentliche Gesundheit wird privatisiert. Im Grunde ist das ein doppelter Triumph des Liberalismus: Nicht nur wird das Individuum für alles Handeln haftbar gemacht. Die Politik muss sich auch der Techniken der Marktwirtschaft bedienen, um den Einzelnen adressieren zu können.
Schubs in die richtige Richtung
Beispiel „Nudging“: Seitdem Großbritannien 2013 eine eigene Nudge Unit aufgebaut hat, wird auch hierzulande darüber diskutiert, wie man diesen Ansatz der Verhaltensökonomie im Alltag fruchtbar machen kann. So wie in der Kantine und am Supermarktregal, wo gesunde oder ungesunde Produkte auf Griffhöhe liegen, soll der Bürger einen sanften Schubs in die „richtige“ Richtung bekommen, auch in der Coronapolitik: Die Unternehmensberatung PwC hat eine digitale Plattform namens „Zone Check“ präsentiert, wo Mitarbeiter unter anderem mit spielerischen Anreizen (Gamification) zum Abstandhalten motiviert werden können. Belohnen statt bestrafen.
Diese Privatisierung des Politischen lässt sich auch am Beispiel von Versicherungen studieren. Dort werden Risiken nicht mehr nur gestreut und auf die Allgemeinheit verteilt, sondern zunehmend in die Sphäre von Individuen verlagert werden. So bieten Kfz-Versicherungen seit einigen Jahren sogenannte Telematik-Tarife an, die die Höhe der Beiträge an die Fahrweise koppeln. Wer sein Fahrverhalten überwachen lässt und vorausschauend fährt, spart am Jahresende bis zu 30 Prozent Beitragskosten.
Laut Bundesverband der Verbraucherzentralen haben 80.000 Deutsche einen solchen Tarif gewählt. Die Disziplinierung der Bürger erfolgt nicht durch Strafandrohung oder einen Bußgeldkatalog, sondern durch eine Kombination aus privater Verkehrsüberwachung und monetären Anreizen.
Vielleicht muss der Staat angesichts dieser privaten Regulative umso härter regieren, weil er Disziplin nur mit dem Werkzeugkasten des Polizeirechts herstellen kann. Der Nationalstaat, den viele in einer globalisierten Gesellschaft mit multinationalen Konzernen schon für klinisch tot erklärten, erlebt in der Coronakrise ein Revival. Dass die Ordnungspolizei in einigen Kommunen Hausbesuche abstattet, um die Quarantäneverpflichtung der Bewohner zu kontrollieren, hätten sich wohl selbst Anhänger eines „starken Staats“ in ihren kühnsten Träumen nicht vorstellen können.
Vielleicht erleben wir gerade das letzte Gefecht eines im Kampf mit dem Neoliberalismus verwundeten Staats, der noch mal alle Reserven mobilisiert – oder den ersten Schimmer von etwas Neuem, einer Renaissance der Disziplinarmacht, die die „gelehrigen Körper“ (Foucault) mit digitalen Technologien erzeugt. Allein mit Disziplin ist am Ende allerdings kein Staat zu machen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Nan Goldin in Neuer Nationalgalerie
Claudia Roth entsetzt über Proteste
Politikwissenschaftlerin über Ukraine
„Land gegen Frieden funktioniert nicht“
taz-Recherche zu Gewalt gegen Frauen
Weil sie weiblich sind
Verein „Hand in Hand für unser Land“
Wenig Menschen und Traktoren bei Rechtspopulisten-Demo
Scholz und Pistorius
Journalismus oder Pferdewette?
Internationaler Strafgerichtshof
Ein Haftbefehl und seine Folgen