Geflüchtete an der EU-Außengrenze: Spiel des Überlebens
Tausende Geflüchtete wollen aus Bosnien-Herzegowina in die EU. Doch kroatische Grenzer halten sie mit teils brutalen Methoden auf.
Fazlić, grünes Poloshirt, Wanderstiefel und Outdoorhose, sieht sich als bürgernaher Politiker. Er ist ein Mann, der eher in eine Schrebergartensiedlung passen würde als in den Mittelpunkt einer humanitären Katastrophe, wie er sagt, die sich gerade in Bihać abspielt.
An diesem Morgen ist Fazlić aufgeregt. Er hat hohen Besuch aus Brüssel. Dem EU-Parlamentarier Erik Marquardt möchte Fazlić an diesem Morgen zeigen, bei was ganz Europa wegschaut – und was die Flüchtlingskrise in seinem kleinen Touristenort angerichtet hat.
Plötzlich stoppt sein Wagen. Fünf Männer laufen ihm auf dem Seitenstreifen entgegen. Fazlić steigt aus, die Autotüre knallt hinter ihm zu:
„Seid ihr zurückgedrängt worden?“, fragt der Bürgermeister.
Ja, sagen die Männer aus Pakistan.
Wo? Im Wald, dort bei dem engen Weg?
An der grünen Grenze zu Kroatien sei ihnen die Grenzpolizei begegnet, erzählt einer aus der Gruppe. Fazlić weiß, wovon sie sprechen.
Die kroatische Regierung nennt es Einreiseverweigerung, humanitäre Organisationen nennen es Pushbacks. Die Geflüchteten sagen dazu: the Game. Ein Spiel. Die Gewinner schaffen es in die EU. Die Verlierer laufen zurück, wie diese Gruppe Pakistaner, 20 Kilometer, zum Teil nur in Unterhosen, das Handy geklaut, die Schuhe und der Schlafsack vor ihren Augen verbrannt und sie von den Beamten verprügelt. Kein Taxi darf sie mitnehmen. Bussen ist es untersagt, Geflüchtete zu transportieren.
„Und werdet ihr es noch einmal versuchen?“, fragt Fazlić. Zum Abschied klopft er einem jungen Mann auf die Schulter: „Viel Glück, Jungs.“ Offiziell kritisiert die Stadtregierung das Vorgehen der kroatischen Grenzbeamten. Ginge es nach dem Bürgermeister, scheint es, sollten die Geflüchteten schnell weiterkommen, nach Kroatien, in die EU, Hauptsache weiter.
Sie wollen nach Deutschland, Italien und Österreich
Seit 2018 führt die Balkanroute, die vom Nahen Osten in die EU durch mehrere Balkanstaaten führt, durch den nordwestlichsten Teil Bosnien und Herzegowinas. Der Kanton Una-Sana sieht auf der Landkarte aus wie eine ausgestreckte Hand, die nach Kroatien hineinreicht. Ein Flaschenhals nach Europa, der durch den 60.000-Einwohner-Ort Bihać führt.
Eigentlich ist Bihać eine Postkartenstadt. Seit Kurzem aber auch Symbolort für eine europäische Debatte: Wer kümmert sich um die Geflüchteten, die an den EU-Außengrenzen stranden? Es ist die Frage nach der Verantwortung, bei der jeder in eine andere Richtung zu blicken scheint: nach Brüssel, in die Hauptstadt Sarajevo, Richtung internationale Organisationen, zu den Regierungen der Herkunftsländer oder direkt auf die eigene Stadt.
10.000 Geflüchtete registrierte die Internationale Föderation des Roten Kreuzes (IFRC) seit Anfang des Jahres im Grenzgebiet Una-Sana. Wie viele tatsächlich Bihać durchlaufen haben, weiß niemand. Schätzen lässt sich nur, dass die meisten aus Pakistan, Afghanistan, Algerien und Syrien kommen. Etwa 5 Prozent haben laut UN-Flüchtlingswerk einen Asylantrag gestellt. Die Geflüchteten wollen weiter. Sie wollen nach Deutschland, Italien und Österreich. Bihać ist ein Transitort geworden, in dem der Durchlauf ins Stocken geriet.
„Wir sind frustriert.“ Fazlić bleibt außer Atem an einem Trampelpfad stehen und stemmt die Hände in die Hüften. „Wir haben 3.000 bis 4.000 Migranten hier und keine Kompetenzen, damit umzugehen.“ Von Geflüchteten oder Asylsuchenden spricht Fazlić gar nicht mehr, in seinen Worten gibt es nur noch: die „Migranten“.
Fazlić ist auch Jäger. Er kann Spuren im Wald lesen und bemerkt Veränderungen schnell. Sein Revier ist ein lichtdurchfluteter Wald mit Blick auf die Berge. Vor einem Jahr stand er hier, erzählt Fazlić auf einer Weggabelung, wo sich die Männer nach der Jagd treffen. Zwei Iraner kamen ihm entgegen. Sie liefen barfuß. Die kroatische Grenzpolizei hätte ihnen die Schuhe und ihre Smartphones weggenommen und die Männer geschlagen. Die humanitäre Krise, die bislang immer woanders im Balkan stattfand, war plötzlich in Fazlićs Revier angekommen.
Der Weg nach Europa könnte ein netter Wanderweg sein. An diesem Morgen aber ist er gepflastert mit platt getretenen Wasserflaschen, zerstörten Handys und mit von Regenwasser getränkten Jacken. Ein rotes Handtuch liegt im Matsch und ein aufgerissenes Pflegeset.
Šuhret Fazlić, Bürgermeister von Bihać
In der Nacht verstecken sie sich hier und im Morgengrauen versuchen sie, über die Grenze zu kommen, weiß Fazlić. Es sind ganze Gruppen mit nur einem Wunsch: endlich nach Europa zu gelangen. Eine rund 900 Kilometer lange Grenze schlängelt sich zwischen Bosnien und Herzegowina und Kroatien. Die Übergänge in den Wäldern sind durchlässig. Jede Nacht ziehen bis zu hundert Geflüchtete aus den Grenzorten los, mit Schlafsäcken, Wasser und Smartphones, wie Kompasse, die ihre Gesichter im Dunkeln anstrahlen.
„Sie tun so, als wäre es nur ein Spiel“, sagt Fazlić. Junge Männer, die nichts zu verlieren hätten. Manche wären schon seit vier oder fünf Jahren unterwegs. Wie ein Computerspiel beschreibt der Bürgermeister den Grenzübergang. Dann zählt er auf: Das erste Level ist Pakistan. Level zwei: die Türkei. Level drei: Griechenland. Level vier: Serbien. Und das fünfte: Bosnien und Herzegowina. „Jedes Level ist hart, aber manchmal bleiben sie stecken, wie hier in Bihać.“ Fazlić wischt sich mit dem Handrücken den Schweiß von der Stirn. Er verstehe sie auch: „Wenn sie es nicht ein Spiel nennen würden, wäre es sehr frustrierend für sie.“ Manche hätten es schon fünfzehnmal versucht.
Fazlić weiß auch: Die, die es nicht schaffen, stranden in Bihać, zum Teil über Monate. In einem Bericht Ende Juli beschreibt das Rote Kreuz: Je strenger die Kontrollen an der kroatischen Grenze, desto mehr Ankünfte gebe es in Bihać. Temporäre Aufnahmezentren seien überlastet. Menschen müssten in provisorischen Lagern auf der Straße schlafen.
Seine Stadt sei überwältigt gewesen, sagt Fazlić: „Es war wie ein Besuch vom Mars.“ Zeitweise sei jeder Sechste in seinem Ort ein Migrant gewesen. Die Konsequenz war, dass Touristen ausblieben, meint Fazlić. Die Bürger hätten protestiert. „Das in meiner Stadt – das kann ich nicht zulassen.“
Von dieser Zeit erzählt der Platz hinter dem Busbahnhof: Ein platt getretener Rasen, in dem Geflüchtete campten, bis sie „weggeräumt“ wurden. Weil die anderen Lager überfüllt waren, errichtete Fazlić Anfang Juni das Flüchtlingslager Vučjak, zehn Kilometer außerhalb des Ortes. 850 Geflüchtete wurden in der Stadt eingesammelt und dorthin gebracht. Manche sagen auch: deportiert.
Die Stadt verlagerte das Flüchtlingsproblem an einen Ort eineinhalb Stunden Fußmarsch von der Stadt entfernt. Ein holpriger Feldweg führt durch eine Schrebergartensiedlung in einen Wald. Dschungel, sagen die Geflüchteten auch, wenn sie von Vučjak sprechen. Büsche rahmen das Lager blickdicht ein, das nicht mehr ist als eine Ansammlung weißer Zelte, ein paar Waschcontainer, ein Platz, auf dem immer wieder ein Volleyball auf sandigen Grund fällt.
Auf einer Ruine steht ein Mann, die Hände zu einem Lautsprecher geformt ruft er zum Gebet auf. Er schreit mehr, als dass er singt. Kurz ist es still. Kein Klappern mehr von Besteck auf den Tellern. Die Männer schauen kurz von ihren Handys auf. Dann geht die Hektik weiter: das Mittagessen, die Vorbereitung. Im Schatten der gespannten Planen horten Männer Cola und Fladenbrot. An einem Stand verkauft ein junger Pakistaner Erdnüsse und Kuchen – Energienahrung für die Wanderung.
Vier Stunden dauert der Aufstieg, weiß Subhan Salihi. Vom Lager aus kann der Afghane den Gebirgskamm sehen, die kroatische Grenze. Die EU liegt in Sichtweite.
Salihi sticht aus der Menge. Er ist groß, aber seine Schultern sind nach vorne gebeugt, als duckte er sich ständig. 24 Jahre ist er alt und hat graue Haarsträhnen. Seit zehn Monaten ist er auf der Flucht durch Afghanistan, Iran, die Türkei, Griechenland, Mazedonien. Kaum in Bosnien und Herzegowina angekommen, griff ihn die Polizei in einem Zug auf und brachte ihn nach Vučjak.
Salihi will so schnell wie möglich weg: nach Italien oder Deutschland, erzählt er: „Ich versuche mein Bestes, um ein Leben zu haben.“ Obwohl er genau das in Afghanistan hatte: Der 24-Jährige studierte gerade Buchhaltung und Computerwissenschaften. Dann sei etwas passiert, sagt er und spricht leise. Er könne nicht darüber sprechen. Nur so viel: „Keiner verlässt seine Heimat ohne Grund.“ Wäre Kabul sicher gewesen, wäre es niemals fortgegangen, sagt er. Aber die Sicherheit, die er in Europa erwartete, liegt noch viele Etappen entfernt.
Im Camp hört er immer wieder vom Spiel. The Game. Auch von den Schlägen und der Schikane. In ein paar Tagen wird er es auch versuchen, das erste Mal, zusammen mit sechs Freunden. Fragt man Salihi, ob er Angst habe, sagt er nein: Er hofft nur, nicht von der Polizei gefasst und nach Vučjak zurückgebracht zu werden.
Seit einer Woche ist Atif, der nur mit seinem Vornamen genannt werden will, auf dem Gelände. Mehrere Male hat der 32-jährige Pakistaner versucht, über die Grenze zu kommen. Dabei hätten ihm die Beamten alles genommen, was er bei sich hatte. Sie hätten seine Schuhe und seinen Schlafsack verbrannt und sein Handy zerstört. Es war sein einziger Kontakt zu seiner Tochter, die er verließ, als sie drei Monate alt war. Vier Jahre ist das her. „Sie nehmen dir das Handy weg wegen des GPS. Ohne das Handy finden wir den Weg nicht“, sagt Atif, die Hände in den Hosentaschen vergraben und mustert die Landkarte. „Warnung, diese Karte zeigt gefährliche Gebiete, kontaminiert mit Minen“, steht dort.
Auch deshalb geriet Vučjak in den letzten zwei Monaten in die Kritik: Minenfelder aus dem Bosnienkonflikt liegen um das Camp, das auf einer ehemaligen Mülldeponie liegt. Unter der Oberfläche wird Methangas vermutet. Es gibt keinen Strom und kein fließendes Wasser. Und weil Geflüchtete keine Möglichkeit haben, ihre Wäsche zu waschen, hat sich Krätze ausgebreitet. Die Bewohner berichten von Schlangen. Etwa 700 Geflüchtete halten sich hier auf, so genau weiß es keiner. Für 400 ist das Camp gedacht, ausschließlich für Männer.
„Die Lebensbedingungen am Standort Vučjak sind völlig inakzeptabel, sie sind unwürdig“, sagt die IFRC-Sprecherin Katarina Zoric. Auch die Internationale Organisation für Migration (IOM) und die UN-Delegation in Bosnien und Herzegowina wollen das Camp nicht anerkennen. Vonseiten der UN heißt es: Vučjak entspräche nicht einmal dem Mindestmaß an internationalen Standards für die Unterbringung von Geflüchteten und Asylsuchenden.
„Es ist das Maximum, was wir anbieten können“, sagt dagegen Fazlić wenige Kilometer weiter, in dem Waldstück, das die meisten Bewohner des Lagers nachts durchqueren. Fazlić kennt den Vorwurf, dass Vučjak nur eine Zwischenstation zum Grenzübertritt sei. In Wirklichkeit sei es ein Akt der Verzweiflung gewesen, sagt er, und hat seine Jacke unter den Arm geklemmt. Es ist warm geworden.
Zur Grenze sind es nur noch wenige Schritte. Geduldig hört der EU-Parlamentarier Erik Marquardt während der Wanderung zu, wie Fazlić seine Überforderung beschreibt. Dann fragt er, ob Vučjak für den Winter vorbereitet sei. „Nein“, sagt der Bürgermeister: „Bis dahin brauchen wir eine Lösung.“ Er bleibt stehen und atmet schwer.
Fazlić fühlt sich von der EU alleingelassen
Es ist Marquardts Aufgabe, sich einen Überblick zu beschaffen. Der 31-Jährige sitzt erst seit Kurzem für die Grünen im EU-Parlament. Aber das Thema Flucht und Migration beschäftigt ihn seit Jahren: Vor seinem Besuch in Bosnien und Herzegowina postet er ein Selfie mit der Sea-Watch-Kapitänin Carola Rackete, er besucht Lesbos und kritisiert die Grenzschutzbehörde Frontex öffentlich. Früher reiste er die EU-Außengrenzen ab. Marquardt weiß, es sind ähnliche Dilemmata: ein Hin- und Herschieben von Verantwortung.
Die Flüchtlingskrise sei ein globales Problem, aber sie fände nur in Bihać statt, so sagt es Fazlić. Letztes Jahr seien 150 Geflüchtete auf einem Boot in Spanien angekommen: „Es war ein Problem für ganz Europa über Tage.“ In Bihać käme jede Nacht genau dieselbe Anzahl an Menschen an. Fazlić fühlt sich von der EU alleingelassen und endlich ist da ein Repräsentant, dem er sein Leid klagen kann. Umgerechnet 100.000 Euro gab er bislang für die Notunterkunft aus. „Ich habe Wichtigeres zu tun“, sagt Fazlić zu Marquardt: „Es ist nicht mein Problem.“
Balkanroute
Zur sogenannten Westbalkanroute rechnet die EU-Grenzschutzagentur Frontex in der Regel Grenzübertritte aus Serbien und Bosnien und Herzegowina in die angrenzenden EU-Staaten Kroatien, Ungarn und Rumänien.
Bosnien und Herzegowina
Laut Europarat wurde Bosnien und Herzegowina 2018 mit über 24.000 Ankünften (20-mal mehr als im Jahr davor) zum bevorzugten Durchreiseland für Migranten und Flüchtlinge. Die Rede ist von 4.000 bis 5.000 Menschen, die die Grenze zu Kroatien überschreiten wollen.
Kroatien
Auch in Kroatien wurde ein Anstieg der Ankünfte festgestellt: Im Jahr 2018 wurden über 7.500 Menschen registriert, von denen nur 352 Asylsuchende im Land blieben.
Geflüchtete
Frontex hatte 2017 auf der Westbalkanroute 12.179 irreguläre Grenzübertritte gezählt, 2018 waren es 5.869. Zwischen Januar und August 2019 sind 6.610 Menschen so in die EU gekommen. Mehr als die Hälfte davon (3.518) stammte aus Afghanistan, gefolgt von Iran (675), Irak (637), Pakistan (351) und der Türkei (327).
Dunkelziffer
Frontex kann natürlich nur jene MigrantInnen erfassen, die von der jeweiligen nationalen Polizei registriert werden. Menschen, die sofort über die Grenze zurückgeschoben werden, werden naturgemäß nicht gezählt. (cja)
Knapp 15 Millionen Euro hat die EU-Kommission Bosnien und Herzegowina im Juni zugesichert, um den Bedürfnissen der Geflüchteten besser begegnen zu können. Das Geld fließt durch Organisationen wie IOM in Essen, Trinken und Zelte zur Stillung der Grundbedürfnisse. Im Vergleich dazu stellte die EU in ihrem Haushaltsplan 2019 rund 534 Millionen Euro für die „innere Sicherheit“ bereit, den Schutz der EU-Außengrenzen. Mitte Juli ist der Bürgermeister zu Besuch in Brüssel. Für das Flüchtlingslager Vučjak, bekommt er eine Absage. Es sei keine adäquate Unterbringung, hieß es auch vonseiten der EU. Fazlić hat aber eine andere Theorie: Der Grund, warum kein Geld von der EU fließe, sei das Veto Kroatiens, weil das Lager zu nahe an der Grenze liege.
Der Grenzübergang verläuft über eine unscheinbare Lichtung im Wald. Zwei verlassene Häuser. Dazwischen platt getretenes Gras und Jeepspuren. Zwei Meter weiter beginnt Kroatien. Der Bürgermeister nickt auf die andere Seite. Immer wieder hätten kroatische Beamte und zum Teil maskierte Männer die Grenze überschritten, um Migranten gewaltsam zurückzudrängen, so sagt es Fazlić.
An der Grenze sind sich der EU- und Stadtpolitiker einig: Was sich hier abspielt, ist nicht rechtens. Von Folter und Menschenrechtsverletzung spricht Erik Marquardt: „Es kann nicht sein, dass die Situation hier für sie schlimmer ist als in ihrem Herkunftsland.“ Das habe nichts mit den Werten der EU zu tun. Dass die Pushbacks ein Bruch internationalen Rechts sind, beweisen Videoaufnahmen.
Im Dezember 2018 veröffentlichte die Organisation Border Violence Monitoring anonymisiertes Filmmaterial. Eine versteckte Kamera, sechs Kilometer von dem Flüchtlingscamp Vučjak entfernt, nahm die Grenze mit verschiedenen Einstellungen in einem Zeitraum von elf Tagen auf. Die Videos zeigen etwa 350 Geflüchtete, Kinder, Frauen. Es ist der erste Beweis, dass und in welchem Ausmaß die Pushbacks stattfinden.
Kolinda Grabar-Kitarović, Präsidentin Kroatiens
In einem Bericht erklärt die Organisation, dass die Zurückweisung nicht nach dem eigentlich vorgesehenen Rückkehrverfahren erfolge. Dafür gebe es seit 2007 ein Abkommen zwischen der EU und Bosnien. Der offizielle Grenzübergang sei demnach der einzig legale Weg zur Rückführung der Geflüchteten. Weil diese Prozedur nicht eingehalten wurde, spricht die Organisation von einem Bruch des Völkerrechts. In Artikel 4 des Vierten Zusatzprotokolls zur Europäischen Menschenrechtskonvention heißt es, dass kollektive Ausweisung verboten ist.
Als Border Violence Monitoring mit dem Filmmaterial an die Öffentlichkeit geht, hatten sie bereits 150 Fälle von Polizeigewalt an der Grenze dokumentiert. Jetzt im September sind es 577. Von Schlägen, Schüssen und Misshandlungen ist die Rede. Der Zustand sei eine Mischung aus struktureller Gewalt und mangelnder medizinischer Versorgung, sagt Chandra Esser. Sie kommt aus Deutschland und arbeitet im Grenzort Velika Kladuša für die Organisation. Sie weiß: auch Kleinkinder, unbegleitete Jugendliche und Frauen werden an der Grenze nicht verschont.
Die kroatische Regierung äußert sich nicht zu den Vorwürfen. Im Juli aber gab die kroatische Präsidentin Kolinda Grabar-Kitarović gegenüber dem Schweizer Fernsehen zu: „Natürlich gibt es ein bisschen Gewalt, wenn man Menschen abschiebt. Mir wurde vom Innenminister, vom Polizeichef und von den Polizisten vor Ort, die ich getroffen habe, immer wieder versichert, dass sie nicht zu viel Gewalt anwenden.“
Aus der Sicht von Amnesty International seien Massenabschiebungen und Pushbacks nach internationalem und EU-Recht jedoch immer illegal. Im März kritisierte die Organisation, dass brutale Angriffe der kroatischen Polizei nicht nur von den europäischen Regierungen hingenommen, sondern auch finanziert wurden.
Die Sonne steht senkrecht am Himmel, als Erik Marquardt und der Bürgermeister Fazlić wieder die Landstraße erreichen. Auch sie sind an diesem Tag so etwas wie die Verlierer. Eine Lösung gibt es nicht. Was er von der EU erwarte, fragt Marquardt. „Dass Kroatien nach internationalem Recht handelt“, antwortet Fazlić, seine Wangen sind rot. Hilfe ist mit seinen Worten etwas Pragmatisches geworden – nicht mehr wie etwas, das er von der EU erwartet. Wenn er von Hilfe spricht, dann meint er nicht mehr Verantwortung, sondern Essen, Trinken, medizinische Versorgung.
Fast gleichzeitig sitzt Subhan Salihi im Schneidersitz auf dem Bürgersteig nahe Bihać und wartet auf die Dämmerung. Von der Debatte um sich und die anderen Geflüchteten im Lager bekommt er nichts mit. Für ihn zählen andere Dinge: Diese Nacht ist es so weit. Salihi hat seinen Rucksack gepackt. Wasser, Brot, Snacks. Er ist bereit für die Reise. Dann wird er denselben Weg gehen, den der EU- und Stadtpolitiker heute gingen.
Fragt man ihn, wer schuld ist an seiner frustrierenden Lage, schaut er nicht Richtung EU oder Bosnien und Herzegowina. Erst recht nicht nach Afghanistan. An Brüssel habe er so wenige Erwartungen wie an Bihać. Er schaut nach vorne: weiterkommen, in Sicherheit zu leben. Er möchte nur ein gutes Leben haben und aufgenommen werden, sagt er, bevor er zum Spiel aufbricht.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Umweltfolgen des Kriegs in Gaza
Eine Toilettenspülung Wasser pro Tag und Person
Putins Atomdrohungen
Angst auf allen Seiten
BGH-Urteil gegen Querdenken-Richter
Richter hat sein Amt für Maskenverbot missbraucht
Streit in der SPD über Kanzlerkandidatur
Die Verunsicherung
+++ Nachrichten im Ukraine-Krieg +++
Biden genehmigt Lieferung von Antipersonenminen
Hype um Boris Pistorius
Fragwürdige Beliebtheit