piwik no script img

Gedenken an Hanau in BerlinZärtlich-zornige Migrantifa

Selten war der Hermannplatz so still. Trotz Pandemie gehen 10.000 Menschen auf die Straße. Sie erinnern an die Ermordeten in Hanau.

„Wir werden selbst Hanau und Halle zur Zäsur machen“, skandieren Demonstrierende Foto: Christophe Gateau/dpa

Berlin taz | Am Samstagnachmittag sind es zunächst 4.000 Menschen, die sich bei Sonnenschein am S-Bahnhof Herrmannstraße zum Gedenken an den rechtsextremen Terroranschlag in Hanau versammeln, um das Erinnern mit politischen Forderungen zu verbinden. „Hanau war kein Einzelfall“ steht auf einigen Plakaten, „Hanau! Das war deutsche Leitkultur“, auf einem Transparent.

Am Freitagabend schon hatten sich an am Kreuzberger Oranienplatz, am Rathaus Neukölln und am Leopoldplatz im Wedding hunderte Menschen versammelt um an Ferhat Unvar, Gökhan Gültekin, Hamza Kurtović, Said Nesar Hashemi, Mercedes Kierpacz, Sedat Gürbüz, Kaloyan Velkov, Vili Viorel Păun und Fatih Saraçoğlu zu erinnern. Vor genau einem Jahr fielen diese jungen Menschen dem rassistischen Attentat in Hanau zum Opfer.

Wie um das mangelnde Bewusstsein der Dominanzgesellschaft für Rassismus zu illustrieren, wendet sich am Samstag ein Beobachter an der Ecke Emser/Hermannstraße aufgebracht an den weißen Journalisten und tut mit fränkischem Zungenschlag kund: „Wenn meine Oma beim Blumengießen ins Grab fällt, gibt es doch auch keine Demo.“ Er stürmt fluchend davon. „Erinnern heißt verändern“, hätte er auf dem mehrsprachigen Flugblatt lesen können, das verteilt wird.

Einige Meter weiter steht Tahir Della von der Initiative Schwarzer Menschen in Deutschland. „Berlin ist nicht besser als Hanau oder Hamburg“, sagt er der taz. Auch hier stellten rassistische Einstellungen und Strukturen eine anhaltende Gefahr dar. Rechtsextremer Terror würde über Jahre hinweg nicht aufgeklärt. Della erinnert an die rechte Terrorserie in Neukölln und den Mord an Burak Bektaş. „Doch Hanau hat dazu geführt, dass sich Berlinweit ein antirassistisches Netzwerk bildet. Die Initiativen rücken mehr und mehr zusammen“, sagt er.

Berührende und kämpferische Atmosphäre mit Maske

Die Initiativen Migrantifa Berlin, Aktionsbündnis Antirassismus, Kein Generalverdacht, Roma Trial, Young Struggle und We’ll Come United haben zur Demo am Samstag aufgerufen. Aber auch kurdische, Schwarze, lateinamerikanische Stimmen und Gruppen kommen zu Wort, als sich die Demonstration in Richtung Hermannplatz auf den Weg macht – vorbei an Cafés und Shishabars, die den Hanauer Tatorten nicht unähnlich sind.

Immer wieder werden die Namen der jungen Menschen aus Hanau vorgelesen, nachdenklich zuweilen, andere Male skandiert von der stetig wachsenden Zahl an Demonstrant*innen. Applaus brandet auf, als An­woh­ne­r*in­nen ein Transparent mit den neun Namen von ihrem Balkon hängen. Einige Straßenschilder werden von Demonstrierenden überklebt. So wird aus der Neuköllner Sonnenallee die „Ferhat-Unvar-Straße“, aus der Pflüger- die „Sedat-Gürbüz-Straße“.

„Die Institutionen haben vor, während und nach Hanau versagt“, heißt es vom Lautsprecherwagen. Der deutsche Rassismus zeige sich jedoch nicht nur in medialen „Clan“-Narrativen, in unverhinderten und schlecht aufgeklärten Morden. Rassismus zeige sich auch in der Ausbeutung des globalen Südens, in illegalen Pushbacks von Menschen auf der Flucht und in Abschiebungen während einer globalen Pandemie.

Nahezu alle Menschen auf dieser Demonstration, die laut Ver­an­stal­te­r*in­nen auf 10.000 Teilnehmende anwächst, tragen einen medizinischen Mund-Nasenschutz. Erwartet wurden ursprünglich 900. Die Polizei machte bis Redaktionsschluss keine Angabe zur Teilnehmendenzahl. Immer wieder weist die Versammlungsleitung auf die notwendigen Abstände hin und bittet auch Beobachter*innen, eine Maske aufzusetzen. Den beiden Mo­de­ra­to­r*in­nen gelingt es mit einer sehr klaren und umsichtigen Kommunikation, eine verantwortliche, zuweilen berührende und doch kämpferische Atmosphäre zu erzeugen.

Fast vollkommen Stille am Hermannplatz

Sie beschwören die Protestierenden, auf Alkohol zu verzichten, genauso wie auf „autonome Selbstinszenierungen“. Und sie erinnern daran, auf sich zu achten: „Alltäglicher Rassismus ist anstrengend. Viele von uns sind erschöpft. Zwingt euch nicht, bis zum Ende der Demo durchzuhalten.“

Doch die Menschen bleiben. Sie vergegenwärtigen sich vor dem Neuköllner Rathaus die Verdrängung migrantischer und migrantisierten Menschen im Bezirk und „grüßen die Jugendlichen, die hier jeden Tag von der Polizei drangsaliert werden.“ Vor der Polizeidirektion in der Sonnenallee macht die Initiative Death in Custody den Mord an Oury Jalloh und anderer in Polizeigewahrsam umgekommener Schwarzer Menschen und Personen of Color zum Thema. „Wer den Namen Oury Jalloh noch nie gehört hat – was für ein Privileg“.

Über den Hermannplatz schallen dann über Lautprecher zuerst die Worte von Angehörigen und Überlebenden aus Hanau, die zuvor aufgezeichnet wurden. Es folgt der eindrücklichste Moment der Demonstration: Es legt sich fast vollkommene Stille über den sonst so belebten Neuköllner Hauptplatz, 10.000 Menschen setzen sich für eine Schweigeminute auf den kalten Boden. Nur eine Schar Tauben ist zu hören, wie sie den Platz überfliegt.

Gegen 19 Uhr endet der Zug dieser neuartigen, zornig-zärtlichen Migrantifa-Bewegung am Kreuzberger Oranienplatz, einem Symbolort der Selbstorganisierung und des Widerstand von Geflüchteten. Zuvor sind nahe der Synagoge am Fraenkelufer die „jüdischen Geschwister, die gerade Shabbat machen“ gegrüßt worden. Auf Farsi wird am O-Platz noch einmal der Bündnisaufruf verlesen und nach vorne geblickt: „Wir werden nicht aufhören uns zu organisieren und zu protestieren“, heißt es da. Und: „Wir werden selbst Hanau und Halle zur Zäsur machen. Und die Covid-19-Pandemie, die ein Nährboden ist für Ideologien der Ungleichwertigkeit. Unsere Antwort wird Solidarität sein.“

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen

Mehr zum Thema

9 Kommentare

 / 
Kommentarpause ab 30. Dezember 2024

Wir machen Silvesterpause und schließen ab Montag die Kommentarfunktion für ein paar Tage.
  • Habe die Demo auf Höhe Boddinstr. live erlebt. Dachte erst, es sind die Querdenker... Hoffentlich keine Zäsur im Infektionsgeschehen, da keinerlei Abstände eingehalten wurden. Volles Verständnis für den Anlaß der Demo. Aber glaubt man wirklich, Masken schützten bei einem Bad in einer schreienden Menge?

  • Ihr Berliner Aktivist*innen, ich liebe euch alle. Danke für all das. Auch danke für den Artikel.

  • Realitätscheck: Wie verbreitet sind rechtsextreme Einstellungen in der Bevölkerung?

    ‘Die "Mitte"-Studie der Friedrich-Ebert-Stiftung aus dem Jahr 2019 zeigt: 2,4 Prozent der Bevölkerung vertreten eine "ausgeprägte rechtsextreme Einstellung". Vor zehn Jahren waren es noch rund acht Prozent. "Ausgeprägt rechtsextrem" eingestellt ist den Autor*innen zufolge, wer allen sechs unten genannten "Dimensionen" zustimmt (Befürwortung einer Diktatur, Chauvinismus, Ausländerfeindlichkeit, Sozialdarwinismus, Antisemitismus, Nationalsozialismus). Die Ergebnisse im Einzelnen:

    • Mehr als drei Prozent der Bevölkerung befürworten eine rechtsgerichtete Diktatur.

    • Knapp 13 Prozent vertreten einen nationalen Chauvinismus, also ein übersteigertes Nationalgefühl.

    • "Ausländerfeindlichkeit" findet bei knapp neun Prozent "ganz eindeutige" Zustimmung.

    • Rund zwei Prozent vertreten Auffassungen des Sozialdarwinismus', der offen rassistisch ist.

    • Mehr als drei Prozent neigen "ganz deutlich" zum klassischen Antisemitismus.

    • Über zwei Prozent verharmlosen offen den Nationalsozialismus.

    (...)

    Laut einer Studie der Universität Leipzig aus dem Jahr 2018 ist der Anteil derjenigen, die ein geschlossen rechtsextremes Weltbild vertreten, seit 2002 deutlich zurückgegangen: von 9,7 Prozent auf 6 Prozent im Jahr 2018.QuelleDecker et al. (2018): "Flucht ins Autoritäre – Rechtsextreme Dynamiken in der Mitte der Gesellschaft", S. 110

    (...)

    2019 gab es lautVerfassungsschutzbericht 32.080 Rechtsextremist*innen in Deutschland. Die Zahl der Rechtsextremist*innen hat sich damit im Vergeich zum Vorjahr um ein Drittel erhöht. Der Anstieg ist laut Fachleuten vor allem darauf zurückzuführen, dass der Bericht die Mitglieder des AfD-"Flügels" als Rechtsextreme einstuft. Von den erfassten Rechtsextremist*innen gelten 13.000 gewaltorientiert.‘

    mediendienst-integ...tsextremismus.html

  • 1G
    17900 (Profil gelöscht)

    Was soll man machen, wenn sich die Polizei als Totalversager erweist?

  • Ich wünschte, ich wüsste, wie man die Namen richtig ausspricht, damit ich mir die Namen laut sagen kann, um den Menschen zu gedenken. Kann mir bitte jemand im Forum helfen mit einer Art Lautschrift? z.B.



    Oury Jalloh [uri dschallo ?? ]

    • @Katrina:

      Produktion: DLF Kultur/WDR 2021



      www1.wdr.de/mediat...von-hanau-102.html



      Am 19. Februar 2020 hat sich Jaweid Gholam zum Fußballgucken in einer Bar verabredet. Aber er entscheidet sich spontan um und bleibt zu Hause. Sein Freund Ferhat Unvar wird den Abend in der Bar nicht überleben.



      Ferhat Unvar wurde aus rassistischen Motiven ermordet. Genauso wie Gökhan Gültekin, Hamza Kurtović, Said Nesar Hashemi, Mercedes Kierpacz, Sedat Gürbüz, Kaloyan Velkov, Vili Viorel Păun und Fatih Saraçoğlu. Anschließend tötete der Attentäter seine Mutter und sich selbst in seinem Elternhaus. Nur wenige Meter vom Jugendzentrum entfernt. Die Radiodokumentation rekonstruiert mit Angehörigen und Überlebenden den Tag des Anschlags und zeigt auf, wie Alltagsrassismus, Segregation und kaum überwindbare Klassenunterschiede den Alltag in der Hanauer Weststadt prägen.

    • @Katrina:

      Oury Jalloh wird so ausgesprochen wie er geschrieben wird, na ja nicht ganz aber Uri Jallo, weil sein Name aus einer westafrikanischen Sprache stammt und die wurden meist wortwörtlich transliteriert in lateinische Schrift. Mit türkischen Namen tue ich mich aber auch schwer. Die Aussprache müsste sich aber online nachschlagen lassen.

  • Sehr geehrter Herr Hunglinger, meinen Dank für die von Ihnen so formulierten Worte. Als "Kartoffel" ohne selbst Rassismus erfahren zu haben, aber betroffen von Klassismus, liefen mir dicke warme Tränen, bei Lesen Ihres Artikels, über meine Wangen. Danke!

  • Gegen die braune Hirnsyphilis ist scheinbar kaum ein Kraut gewachsen...