Gedenken an Hanau in Berlin: Zärtlich-zornige Migrantifa
Selten war der Hermannplatz so still. Trotz Pandemie gehen 10.000 Menschen auf die Straße. Sie erinnern an die Ermordeten in Hanau.
![Demonstrierende halten ein Transparent mit der Aufschrift Hanau hoch Demonstrierende halten ein Transparent mit der Aufschrift Hanau hoch](https://taz.de/picture/4695707/14/26862518-1.jpeg)
Am Freitagabend schon hatten sich an am Kreuzberger Oranienplatz, am Rathaus Neukölln und am Leopoldplatz im Wedding hunderte Menschen versammelt um an Ferhat Unvar, Gökhan Gültekin, Hamza Kurtović, Said Nesar Hashemi, Mercedes Kierpacz, Sedat Gürbüz, Kaloyan Velkov, Vili Viorel Păun und Fatih Saraçoğlu zu erinnern. Vor genau einem Jahr fielen diese jungen Menschen dem rassistischen Attentat in Hanau zum Opfer.
Wie um das mangelnde Bewusstsein der Dominanzgesellschaft für Rassismus zu illustrieren, wendet sich am Samstag ein Beobachter an der Ecke Emser/Hermannstraße aufgebracht an den weißen Journalisten und tut mit fränkischem Zungenschlag kund: „Wenn meine Oma beim Blumengießen ins Grab fällt, gibt es doch auch keine Demo.“ Er stürmt fluchend davon. „Erinnern heißt verändern“, hätte er auf dem mehrsprachigen Flugblatt lesen können, das verteilt wird.
Einige Meter weiter steht Tahir Della von der Initiative Schwarzer Menschen in Deutschland. „Berlin ist nicht besser als Hanau oder Hamburg“, sagt er der taz. Auch hier stellten rassistische Einstellungen und Strukturen eine anhaltende Gefahr dar. Rechtsextremer Terror würde über Jahre hinweg nicht aufgeklärt. Della erinnert an die rechte Terrorserie in Neukölln und den Mord an Burak Bektaş. „Doch Hanau hat dazu geführt, dass sich Berlinweit ein antirassistisches Netzwerk bildet. Die Initiativen rücken mehr und mehr zusammen“, sagt er.
Berührende und kämpferische Atmosphäre mit Maske
Die Initiativen Migrantifa Berlin, Aktionsbündnis Antirassismus, Kein Generalverdacht, Roma Trial, Young Struggle und We’ll Come United haben zur Demo am Samstag aufgerufen. Aber auch kurdische, Schwarze, lateinamerikanische Stimmen und Gruppen kommen zu Wort, als sich die Demonstration in Richtung Hermannplatz auf den Weg macht – vorbei an Cafés und Shishabars, die den Hanauer Tatorten nicht unähnlich sind.
Immer wieder werden die Namen der jungen Menschen aus Hanau vorgelesen, nachdenklich zuweilen, andere Male skandiert von der stetig wachsenden Zahl an Demonstrant*innen. Applaus brandet auf, als Anwohner*innen ein Transparent mit den neun Namen von ihrem Balkon hängen. Einige Straßenschilder werden von Demonstrierenden überklebt. So wird aus der Neuköllner Sonnenallee die „Ferhat-Unvar-Straße“, aus der Pflüger- die „Sedat-Gürbüz-Straße“.
„Die Institutionen haben vor, während und nach Hanau versagt“, heißt es vom Lautsprecherwagen. Der deutsche Rassismus zeige sich jedoch nicht nur in medialen „Clan“-Narrativen, in unverhinderten und schlecht aufgeklärten Morden. Rassismus zeige sich auch in der Ausbeutung des globalen Südens, in illegalen Pushbacks von Menschen auf der Flucht und in Abschiebungen während einer globalen Pandemie.
Nahezu alle Menschen auf dieser Demonstration, die laut Veranstalter*innen auf 10.000 Teilnehmende anwächst, tragen einen medizinischen Mund-Nasenschutz. Erwartet wurden ursprünglich 900. Die Polizei machte bis Redaktionsschluss keine Angabe zur Teilnehmendenzahl. Immer wieder weist die Versammlungsleitung auf die notwendigen Abstände hin und bittet auch Beobachter*innen, eine Maske aufzusetzen. Den beiden Moderator*innen gelingt es mit einer sehr klaren und umsichtigen Kommunikation, eine verantwortliche, zuweilen berührende und doch kämpferische Atmosphäre zu erzeugen.
Fast vollkommen Stille am Hermannplatz
Sie beschwören die Protestierenden, auf Alkohol zu verzichten, genauso wie auf „autonome Selbstinszenierungen“. Und sie erinnern daran, auf sich zu achten: „Alltäglicher Rassismus ist anstrengend. Viele von uns sind erschöpft. Zwingt euch nicht, bis zum Ende der Demo durchzuhalten.“
Doch die Menschen bleiben. Sie vergegenwärtigen sich vor dem Neuköllner Rathaus die Verdrängung migrantischer und migrantisierten Menschen im Bezirk und „grüßen die Jugendlichen, die hier jeden Tag von der Polizei drangsaliert werden.“ Vor der Polizeidirektion in der Sonnenallee macht die Initiative Death in Custody den Mord an Oury Jalloh und anderer in Polizeigewahrsam umgekommener Schwarzer Menschen und Personen of Color zum Thema. „Wer den Namen Oury Jalloh noch nie gehört hat – was für ein Privileg“.
Über den Hermannplatz schallen dann über Lautprecher zuerst die Worte von Angehörigen und Überlebenden aus Hanau, die zuvor aufgezeichnet wurden. Es folgt der eindrücklichste Moment der Demonstration: Es legt sich fast vollkommene Stille über den sonst so belebten Neuköllner Hauptplatz, 10.000 Menschen setzen sich für eine Schweigeminute auf den kalten Boden. Nur eine Schar Tauben ist zu hören, wie sie den Platz überfliegt.
Gegen 19 Uhr endet der Zug dieser neuartigen, zornig-zärtlichen Migrantifa-Bewegung am Kreuzberger Oranienplatz, einem Symbolort der Selbstorganisierung und des Widerstand von Geflüchteten. Zuvor sind nahe der Synagoge am Fraenkelufer die „jüdischen Geschwister, die gerade Shabbat machen“ gegrüßt worden. Auf Farsi wird am O-Platz noch einmal der Bündnisaufruf verlesen und nach vorne geblickt: „Wir werden nicht aufhören uns zu organisieren und zu protestieren“, heißt es da. Und: „Wir werden selbst Hanau und Halle zur Zäsur machen. Und die Covid-19-Pandemie, die ein Nährboden ist für Ideologien der Ungleichwertigkeit. Unsere Antwort wird Solidarität sein.“
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