Gastkommentar Historische Kommission: Die Geschichtsdemenz der SPD
Die Sozialdemokraten wollen ihre Historische Kommission abschaffen. Dabei lässt sich ohne Wissen um die Vergangenheit keine Zukunft gewinnen.
R echtspopulisten okkupieren die deutsche Geschichte, erst kürzlich traf es die „Wiege der deutschen Demokratie“, das Hambacher Fest von 1832. Von linksaußen ertönt zur 100. Wiederkehr der Revolution von 1918 eine alte Melodie: „Wer hat uns verraten? Sozialdemokraten“, wobei eine Linie bis zur Agenda 2010 suggeriert wird. Überall wanken demokratische Erinnerungskulturen, in Polen, Ungarn, in Frankreich – in jedem Museum, jeder Erinnerungsstätte, bei jedem Jahrestag.
Ausgerechnet in diesem Umfeld hat jene deutsche Partei, die sich rühmt, die älteste zu sein, und stolz ist auf ihre Demokratiegeschichte, eine abstruse Idee: ihre Historische Kommission einzustellen.
Man könnte klagen, dass die jungen SPD-Funktionäre eben keinen Sinn für Geschichte haben. Aber es ist schlimmer: Sie haben keine Ahnung davon, warum unsere Demokratie ein Geschichtsbewusstsein benötigt, um nicht zu verkümmern.
Ohne Wissen um die Vergangenheit lässt sich keine Zukunft gewinnen. Kritisches Geschichtsbewusstsein ist ein Lebenselixier für jede Demokratie. Denn Geschichte ist die Trias aus Vergangenheitsdeutung, Gegenwartsverständnis und Zukunftsperspektive. Sie ist lebendige Aufklärung und Demokratiewissenschaft.
Prof. Dr. Edgar Wolfrum ist Inhaber des Lehrstuhls für Zeitgeschichte an der Universität Heidelberg und Mitglied der Historischen Kommission beim SPD-Parteivorstand.
Geschichte als Waffe
Jedes Leben wird rückwärts gedeutet und nach vorne gelebt. Ohne historische Erfahrung kommen wir nicht aus. Geschichte zeigt uns, woher wir kommen – sie zeigt uns aber vor allem, was wir nicht mehr sind. Alle Europäer, die Diktaturen überwinden und Zivilgesellschaften aufbauen mussten, wissen das.
Für Antidemokraten war und ist Geschichte immer eine Waffe. In den anstehenden erinnerungskulturellen Kämpfen wird die stolzeste deutsche Partei stimmlos sein. Das geschichtsgesättigte Solidaritätslied der Arbeiter wird neu geschrieben. Aus: „Vorwärts und nicht vergessen“ wird „Vorwärts und schnell vergessen“.
Schadenfreude ist unangebracht. Denn es geht gar nicht um die geschichtsblind gewordene alte Tante SPD. Es geht, und das ist das Fatale dieser Posse, um die demokratische Gesellschaft.
Eine Koalition, die was bewegt: taz.de und ihre Leser:innen
Unsere Community ermöglicht den freien Zugang für alle. Dies unterscheidet uns von anderen Nachrichtenseiten. Wir begreifen Journalismus nicht nur als Produkt, sondern auch als öffentliches Gut. Unsere Artikel sollen möglichst vielen Menschen zugutekommen. Mit unserer Berichterstattung versuchen wir das zu tun, was wir können: guten, engagierten Journalismus. Alle Schwerpunkte, Berichte und Hintergründe stellen wir dabei frei zur Verfügung, ohne Paywall. Gerade jetzt müssen Einordnungen und Informationen allen zugänglich sein. Was uns noch unterscheidet: Unsere Leser:innen. Sie müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 50.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Es wäre ein schönes Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Streit um tote Geiseln in Israel
Alle haben versagt
Soziologische Wahlforschung
Wie schwarz werden die grünen Milieus?
CDU-Chef Friedrich Merz
Friedrich der Mittelgroße
Comeback der Linkspartei
„Bist du Jan van Aken?“
Geiselübergabe in Gaza
Gruseliges Spektakel
+++ Nachrichten im Ukraine-Krieg +++
Russland und USA beharren auf Kriegsschuld des Westens