G20-Gipfel in Indien: Faule Kompromisse
Das Interesse an Indien als wirtschaftlichem Partner ist im Westen sehr groß. Dass dort Frauenrechte und Demokratie verletzt werden, nimmt man hin.
S eit Anfang Mai sind im nordostindischen Unionsstaat Manipur Frauen nackt vorgeführt und vergewaltigt, Kinder erschossen sowie Häuser und Kirchen niedergebrannt worden. Angehörige zweier ethnischer Minderheiten sind mit Waffen aus staatlichen Beständen aufeinander losgegangen, doch Indiens Premierminister Narendra Modi stattete derweil lieber den USA, Ägypten, Australien und anderen Ländern Staatsbesuche ab.
Zwischendurch besuchten auch Staatsführer, Regierungschefs und Minister aus den USA, Deutschland, Japan und anderen Ländern Modi in Neu-Delhi. Doch waren bei den Gesprächen mit ihm die Unruhen, Menschenrechtsverletzungen oder Probleme von Frauen und Minderheiten kein ernsthaftes Thema. Die Staats- und Regierungschefs der wichtigsten Industrie- und Schwellenländer werden am 9. und 10. September zum G20-Gipfel in Neu-Delhi erwartet.
Zu den Gästen werden Bundeskanzler Olaf Scholz, US-Präsident Joe Biden, der britische Premier Rishi Sunak und Frankreichs Premierminister Emmanuel Macron gehören. Womöglich wird auch der russische Präsident Wladimir Putin kommen, gegen den ein Haftbefehl des Internationalen Strafgerichtshofs (IStGH) in Den Haag wegen Kriegsverbrechen vorliegt und der deshalb bisher andere Gipfel gemieden hat.
Da Indien aber den IStGH nicht anerkennt, droht Putin in Indien technisch gesehen keine Festnahme. Er könnte sich in Neu-Delhi erstmals seit Beginn des Krieges in der Ukraine den Staats- und Regierungschefs, die seine Politik ablehnen, persönlich entgegenstellen. Die Russland-Frage zeigt einen Bruch zwischen Europa, Amerika und dem indischen Subkontinent. Seit Beginn des Krieges sieht der Westen Indiens Haltung zu Moskau kritisch.
Weiter Geschäfte mit Russland
Indien setzt die Geschäfte mit Russland fort, kauft dort günstig Öl und sieht von einer Verurteilung des russischen Angriffskrieges in der Ukraine ab. Damit enttäuscht Indien die Erwartungen des Westens. Ist das der Grund, warum der Westen das fortdauernde Unrecht gegenüber Indiens Minderheiten ignoriert? Haben sich die Staats- und Regierungschefs dafür entschieden, die Beziehungen zu pflegen, ohne sich dabei über die Politik des Hasses in Indien besorgt zu zeigen?
ist freie Journalistin in Neu-Delhi mit den Schwerpunkten Wissenschaft, Umwelt und Gesellschaft für indische und internationale Medien. Am 18. September diskutiert sie im taz Talk auf Englisch über „The West’s new love affair with India“.
Im Juni sprach US-Präsident Biden mit Modi bei einem Dinner über Rüstungsgeschäfte, Militärtechnologie und demokratische Werte. Als Bundeskanzler Scholz im Februar Indien besuchte, erörterten die Regierungschefs unter anderem Fragen der Beschäftigung, der Technologie, der Zusammenarbeit im Bereich grüner Energie sowie Handels- und Wirtschaftsthemen. Fast alle Besucher sind von Indiens technologischen Fähigkeiten so begeistert wie von seinen zahlreichen jungen und qualifizierten Arbeitskräften.
Sie sollen helfen, westliche Volkswirtschaften am Laufen zu halten. Doch mit dem Import von Humanressourcen importiert der Westen auch eine Gesellschaft. Es ist zu bezweifeln, dass deren eigene Themen in der Heimat zurückbleiben in einer Zeit, wenn die Migration diese unvermeidlich in andere Teile der Welt verbreitet. So wehte am 15. August dieses Jahres, dem indischen Unabhängigkeitstag, in den USA die Flagge der rechten hindunationalisten Organisation Bajrang Dal.
Gewalt gegen Muslime und Christen
Dazu wurden religiöse Slogans skandiert. Bajrang Dal wird seit 2018 vom US-Geheimdienst CIA als militante religiöse Gruppe eingestuft. Ihre Mitglieder greifen in Indien muslimische Unternehmen und Geschäfte an, brennen Moscheen und Kirchen nieder und verbreiten Hass, ohne dass sie Konsequenzen von der Polizei oder der hindunationalistischen Regierung zu befürchten haben.
Die anhaltende Gewalt in Indien vergleichen einige schon mit der Nazizeit in Deutschland, als einer bestimmten Gemeinschaft erlaubt wird, das Land auf Kosten anderer in eine bestimmte Richtung zu lenken. Minderheiten werden ins Visier genommen, Hassreden zugelassen, Vorschriften geändert und manipuliert und der Rechtsstaat und die Verfassung umgangen.
Indien hat nicht nur mit kommunaler und religiöser Gewalt zu kämpfen. Die Inflation ist auf einem Rekordhoch. Das Land kämpft noch immer damit, zu der wirtschaftlichen Stabilität aus der Zeit vor der Coronapandemie zurückzukehren. Auch die Pressefreiheit ist auf einem historischen Tief. Zugleich weichen neue Gesetze Umweltvorschriften auf und beschneiden die Rechte indigener Völker.
Doch der Westen, der sich rühmt für seine Förderung von Demokratie und Klimagerechtigkeit, hat es bisher versäumt, die Ungerechtigkeiten in Indien anzusprechen. So scheint es, dass das Einzige, was den Osten und den Westen näher bringt, entweder die Wirtschaft oder China ist. In dem Bestreben, einen Ersatz für China zu finden, weist der Westen lautstark und auf Indiens strategische Bedeutung in der globalen Politik und Wirtschaft hin.
Wenn der Westen jedoch nicht gegen die dortige kommunale Gewalt, gegen die Förderung religiöser und hasserfüllter undemokratischer Politik Stellung bezieht, könnte ihm dies mehr schaden als nützen. Bisher gab es auch kaum ein Wort des Mitgefühls oder der Besorgnis seitens der mächtigen Nationen, um die Rechte von Frauen und Minderheiten in Indien zu verteidigen und die Verfassung in der größten Demokratie der Welt zu wahren.
Ignoriert der Westen auch beim G20-Gipfel weiterhin die Realitäten in Indien, stellen sich zwei Fragen: Kümmert sich der Westen wirklich um die Menschen, die Demokratie und die Menschenrechte, oder zieht er Business as usual vor? Und: Kann sich der Westen, der mit Indiens Hilfe seinen Bedarf an Arbeitskräften, wirtschaftlichem Wachstum und technologischem Fortschritt decken will, vor Ideen schützen, die Indiens Souveränität, Brüderlichkeit, Freiheit und Gleichheit bedrohen?
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Israelische Drohnen in Gaza
Testlabor des Grauens
Proteste bei Nan Goldin
Logiken des Boykotts
Rekrutierung im Krieg gegen Russland
Von der Straße weg
Bundeskongress der Jusos
Was Scholz von Esken lernen kann
Bündnis Sahra Wagenknecht
Ein Bestsellerautor will in den Bundestag
Wie er die US-Wahl gewann
Die Methode Trump