Fünf Szenarien für den Gazastreifen: Gibt es eine Lösung?
Gazas Zukunft ist seit dem Beginn von Israels Offensive ungewiss. In Verhandlungen und in einem Arbeitspapier zeichnen sich aber Szenarien ab.
Der Gazakrieg geht in die fünfte Woche – und bislang hat Israel keine Pläne für den „Tag danach“ verkündet, wenn die Hamas tatsächlich zerstört sein sollte. Rollen die Panzer zurück ins israelische Kernland? Oder springen internationale Truppen der Armee zur Seite, um den Küstenstreifen zu kontrollieren? Und wer soll Gaza regieren?
Er gehe davon aus, dass nach dem Terrorüberfall der Hamas aktuell eine Art Brainstorming stattfinde, sagt der Analyst Michael Milshtein, der einst beim israelischen Militärgeheimdienst die Palästinaabteilung leitete. Sicher weiß auch er nur: „Gaza wird nach diesem Krieg fast vollständig ruiniert sein.“
Doch es gibt bereits Aussagen, die auf mögliche Szenarien schließen lassen: Verteidigungsminister Joaw Gallant hat ein „neues Sicherheitsregime im Gazastreifen“ in Aussicht gestellt, Außenminister Eli Cohen machte Anspielungen auf ein geschrumpftes Gaza: „Am Ende dieses Krieges wird sich das Gebiet verkleinern.“
„Vor einem Monat“, sagte Milshtein der taz, „haben wir verstanden, dass wir nicht mehr so tun können, als könnten wir unsere Beziehungen mit der arabischen Welt normalisieren, ohne uns mit der palästinensischen Arena zu beschäftigen.“ Selbst „historische Entscheidungen“, die neben Gaza auch das Westjordanland betreffen, hält er für möglich.
Status quo
Vorstellbar ist zunächst ein verschärfter Status quo, also eine intensivierte Abriegelung des Gazastreifens. Die „Zerstörung der Hamas“ würde möglicherweise nicht erreicht, stattdessen würde die Terrororganisation deutlich geschwächt, bevor sich Israel aus dem Gebiet zurückzöge. Die Bewohner*innen wären mehr noch als bislang auf humanitäre Hilfe angewiesen, und kaum jemand könnte Gaza noch verlassen, auch nicht temporäre Arbeiter*innen und Schwerkranke. Israel würde die Grenze noch stärker sichern als bisher.
Cohens Aussage zu einem geschrumpften Gaza lässt vermuten, dass Israel eine breite Pufferzone errichten wird. Zumindest einige Jahre lang würde Ruhe herrschen. Die Perspektivlosigkeit im Gazastreifen allerdings, wo fast 70 Prozent der Menschen unter 30 Jahre alt sind, würde sich noch verschärfen, der Hass auf Israel noch wachsen.
Besetzung Gazas
Eine dauerhafte Militärbesatzung und Wiederbesiedlung des Gazastreifens wurde aus Israels rechtsreligiösem Lager schon vor dem Krieg gefordert. „Es gibt keinen Zweifel, dass Gaza Teil Israels ist, es wird der Tag kommen, an dem wir dorthin zurückkehren“, sagte Orit Strook, die als Ministerin für die Siedlungen im Westjordanland zuständig ist.
Der Analyst Milshtein hält dieses Szenario allerdings für unwahrscheinlich. Eine Besatzung würde enorm kostspielig werden für Armee und Gesellschaft. „Die meisten Israelis, sagen wir 90 Prozent, wollen eine komplette, harte Trennung von den Palästinensern.“ Eine Wiederbesiedlung Gazas sei kaum durchsetzbar, bedeutete dies doch statt Trennung eine enge räumliche Koexistenz.
Vertreibung
Eine harte Trennung wäre in einem Szenario gegeben, das viele Palästinenser*innen befürchten. Es wäre die düsterste aller Optionen: Die Bevölkerung Gazas würde komplett vertrieben – nach Ägypten und in andere Staaten.
René Wildangel, Nahostexperte und Dozent an der Hellenic University in Thessaloniki, weist auf ein Dokument des israelischen Geheimdienstministeriums hin, das vergangene Woche von israelischen Medien öffentlich gemacht wurde. In dem Papier wird tatsächlich die Option durchgespielt, die gesamte Gazabevölkerung von 2,3 Millionen zu „evakuieren“. Das Büro von Premier Netanjahu spielte die Bedeutung des Dokuments herunter; es handele sich nur um ein Arbeitspapier.
Wildangel bleibt skeptisch: „Das Szenario einer Evakuierung – gleich Vertreibung – hätte dramatische Folgen: weitreichende Zerstörungen in Gaza und riesige Zeltstädte in Ägypten. Ich befürchte, dass dieses Szenario nicht komplett unrealistisch ist.“ Der Sicherheit Israels wäre damit allerdings nicht gedient: „Das würde riesiges Leid verursachen und damit auch entsprechend Hass auf sich ziehen.“
„Eine totale Illusion“ seien solche Überlegungen, sagt Milshstein. Kein Land werde die Palästinenser*innen aufnehmen. Außerdem dürfe man die Radikalität der Hamas nicht unterschätzen. „Die Hamas-Mitglieder sind bereit, sich selbst, ihre Familien, ihre Nachbarn zu opfern.“ Sie würden bis zum Tod kämpfen, statt Gaza zu verlassen, ist sich Milshtein sicher.
Blauhelme
Denkbar ist auch ein Engagement anderer Staaten. Nach einem Gipfel mit mehreren arabischen Staaten im Oktober in Kairo sprach Bundesaußenministerin Annalena Baerbock von Erfahrungen im Westbalkan. Dort wurde 1999 das Kosovo unter UN-Verwaltung gestellt.
Außenminister Eli Cohen über die Zukunft des Gazastreifens
Auch der Gazastreifen könnte unter internationaler Verwaltung, mitsamt internationaler Truppenpräsenz kommen. Dies müsste eine Entwaffnung militanter Gruppen garantieren.
Michael Milshtein ist skeptisch: „In Israel haben wir sehr schlechte Erfahrungen mit internationalen Truppen“, sagt er. Die UN-Mission im Südlibanon beispielsweise sei extrem schwach. Israel müsste im Rahmen einer internationalen Lösung also darauf bestehen, militärisch die Kontrolle zu behalten.
Vor allem aber sei eine UN-Präsenz kaum durchsetzbar: „Es bräuchte ein Mandat des UN-Sicherheitsrats für eine robuste internationale Truppe“, sagt Wildangel. Im Zweifelsfall müssten die Soldaten Gewalt anwenden dürfen, wozu ein Mandat nach Kapitel 7 der UN-Charta nötig wäre. „Das ist vor dem Hintergrund des blockierten Sicherheitsrats so gut wie unmöglich.“
Rückkehr der PA
Für wahrscheinlicher hält Wildangel eine Zustimmung der Konfliktparteien zu einer verhandelten Lösung. In diesem Szenario würden sich arabische Länder bereit erklären, Truppen für einen Übergangszeitraum zu entsenden. Jeder Staat, erklärt er, könne die Staatengemeinschaft zu Missionen einladen. In diesem Fall wäre die Zustimmung Israels und der Palästinensischen Autonomiebehörde (PA) nötig, die 1993 geschaffen und 2007 von der Hamas aus Gaza verjagt wurde, die aber bis heute – mit begrenzter Macht – im Westjordanland regiert.
Dieser Text stammt aus der wochentaz. Unserer Wochenzeitung von links! In der wochentaz geht es jede Woche um die Welt, wie sie ist – und wie sie sein könnte. Eine linke Wochenzeitung mit Stimme, Haltung und dem besonderen taz-Blick auf die Welt. Jeden Samstag neu am Kiosk und natürlich im Abo.
Das Problem: „Die PA ist in einem katastrophalen Zustand, personell, strukturell und finanziell“, sagt Wildangel. „Sie ist kaum in der Lage, die wenigen Gebiete im Westjordanland, die ihr noch geblieben sind, zu kontrollieren.“ Internationale Partner hätten die Behörde „verhungern lassen“, da niemand mehr wirklich an den palästinensischen Staat glaubte, der im Rahmen einer Zweistaatenlösung entstehen sollte. Vor allem aber fehle der PA die demokratische Legitimation. Die letzten Wahlen fanden 2006 statt.
Außerdem, schränkt Wildangel weiter ein, könne die PA nur wieder eine Rolle spielen, wenn auch Israel Interesse zeige, dass diese Verwaltung funktioniere und auch ein neuer politischer Prozess in Gang komme. „Man darf nicht vergessen, dass in Israel immer noch eine Regierung unter Netanjahu an der Macht ist, der seit Jahrzehnten dafür steht, dass es keine Zweistaatenlösung gibt und dass kein palästinensischer Staat entsteht.“
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