Frühchen und die Pandemie: Vorwärts federn nach Corona

Eine dänische Studie belegt, dass die Ausgangsbeschränkungen die Zahl der Frühgeburten drastisch reduzierte. Corona ist einmal mehr auch eine Chance.

Eine Hand hält eine Babyhand

Belastung durch Corona sorgt nicht für mehr Frühgeburten – Luftverschmutzung vermutlich schon Foto: Fabian Strauch/dpa

Vor ein paar Tagen stand in der New York Times, dass die Frühgeburtenrate während der Corona-Lockdown-Zeit in vielen Ländern zurückgegangen sei. Ein Forscher*innenteam in Kopenhagen war angesichts sich leerender neonatologischer Stationen neugierig geworden und verglich die Zahl der landesweit von Mitte März bis Mitte April geborenen Frühchen unter 28 Wochen mit den Daten des gleichen Zeitraums in den vergangenen fünf Jahren. Wie sich herausstellte, waren es sagenhafte 90 Prozent weniger.

Ähnliches berichteten Ärzt*innen aus ­Calgary, Rotterdam, Melbourne und Nashville, auch wenn ihre Schätzungen nicht ganz so drastisch ausfallen. Was sagt uns das? Im Gegensatz zu PatientInnen mit Herzbeschwerden, die sich aus Angst vor einer Ansteckung mit dem Coronavirus weniger zum Arzt trauten, werden Schwangere kaum Frühgeburten zu Hause absolviert und Brutkästen aus dem Terrarium im Wohnzimmer improvisiert haben, um nicht ins Krankenhaus fahren zu müssen.

Die Forscher*innen vermuten, dass diese Ergebnisse einer Mischung aus Stress, Luftverschmutzung und verschiedenen Krankheitserregern zuzuschreiben sind, denen werdende Mütter aufgrund des Lockdowns weniger ausgesetzt waren als sonst und deshalb seltener vorzeitige Wehen bekamen. Dabei könnte man meinen, dass doch gerade eine Viruspandemie und ein dadurch verursachter quasi-globaler Stillstand psychosozialen Stress verursachen würden, der sich auch körperlich niederschlägt.

Für Ursachen der gesunkenen Frühgeburtenrate gibt es nur Mutmaßungen, keine Beweise, auch ist die dänische Studie noch nicht peer-reviewed. Und natürlich sind diese Berichte nur eine Momentaufnahme innerhalb komplizierterer Zusammenhänge. Dennoch erzählen sie etwas über, pardon, die Beschissenheit der Welt, wie wir sie kennen: dass es so unmittelbar spürbare Auswirkungen auf die Gesundheit zu haben scheint, wenn Autos und Wirtschaft stillstehen.

Corona stellt und beantwortet Systemfragen

Plötzlich, sagt eine Forscherin, habe die jahrelang stagnierte Ursachenforschung zum Thema Frühchen wieder neue Impulse bekommen: „Offenbar musste erst eine Virusattacke kommen, um uns auf die Spur zu bringen.“ Corona stellt viele Systemfragen und beantwortet manche gleich mit. Die vielleicht drängendste und gleichzeitig unerwartetste lautet: Wie verwundbar sind wir eigentlich?

Das Frühchen-Phänomen legt nahe, dass Menschen erstaunliche Fähigkeiten zur psychischen Resi­lienz angesichts einer unerwarteten Bedrohung wie einer Viruspandemie besitzen, gegenüber diversen Umwelteinflüssen der industriellen Hochleistungsgesellschaft aber umso verletzbarer zu sein scheinen. Insofern ist, wie die Forscherin in der New York Times beschreibt, die aktuelle Krise als Chance für gesellschaftliche Transformationsprozesse gar nicht zu unterschätzen.

Zumindest hierzulande scheint einfach, was vorher unvorstellbar war: dass es eine erhöhte Aufmerksamkeit gegenüber der Bedeutung und Funktion von Wissenschaft gibt. Dass in Berlin beinahe über Nacht anständige Fahrradwege gebaut werden. Dass die tier- und menschenverachtenden Arbeitsbedingungen in der Fleisch­industrie am öffentlichen Pranger stehen. Dass Homeoffice keine Ausnahme sein muss, sondern in vielen Fällen sogar besser funktioniert, wie eine in dieser Woche veröffentlichte Studie der DAK zeigt.

Unter Fachleuten gibt es den Begriff des „,bounce forward“, also „vorwärts federn“, wenn das System nicht in den Normalzustand vor der Krise zurückzukehren versucht und zurückfedert („bounce back“), sondern sich anpasst und stärker wird. „Normal“ ist ohnehin längst Geschichte. Zwar liegen wir wieder am Strand und treffen Freun­d*in­nen an der Bar, aber wir wissen jetzt, dass das schon morgen vorbei sein könnte. Da lässt sich nur hoffen, dass uns das sensibilisiert für alles, was noch kommt.

Zwei ausgewählte Klima-Meldungen dieser Woche: An einem seit 2016 untersuchten Methanleck in der Antarktis haben sich deutlich weniger hungrige Mikroben angesiedelt als erwartet, das Gas kann weitgehend unkontrolliert austreten. Und am anderen Ende der Welt könnten zum Ende dieses Jahrhunderts die Eisbären ausgestorben sein. Vom Permafrost ganz zu schweigen. Ja, wir sind verwundbar, und der Planet stirbt uns gerade unwiderruflich unterm Hintern weg.

Die Gruppe der Verharmloser*innen dieser Erkenntnis überschneidet sich wenig überraschend oft mit der jener, die Corona hauptsächlich als Zumutung empfinden und Solidarität als Schwäche – und das System auch sonst überallhin federn lassen wollen, nur nicht nach vorn. Vielleicht hilft ihnen ja das: Laut neuen Erkenntnissen aus den USA verringern Mund-Nasen-Masken die Viruslast dahingehend, dass eine mögliche Erkrankung leichter verläuft. Man schützt also nicht nur andere, sondern auch sich selbst.

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ist freie Korrespondentin in den USA und war bis Anfang 2020 taz-Redakteurin im Ressort Meinung+Diskussion. Davor: Deutsche Journalistenschule, Wissenschaftliche Mitarbeiterin im Bundestag, Literatur- und Politikstudium in Bamberg, Paris und Berlin, längerer Aufenthalt in Istanbul.

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