Friedliche Wende in der DDR: Warum kein Schuss fiel
Wie führende SED-Mitglieder im Oktober 1989 dafür sorgten, dass die Proteste gegen das Regime nicht in einem Blutbad von Polizeikugeln endeten.
Aus der ganzen Republik pilgern daraufhin Fluchtwillige nach Dresden in der Hoffnung, auf einen der Züge aufspringen zu können. Nach einer ersten Straßenschlacht zwischen ihnen und der Polizei am 3. Oktober versuchen am Abend des folgenden Tages mindestens 5.000 DDR-Bürger den Hauptbahnhof zu stürmen. Kaum eine Glasscheibe bleibt heil, Kioske werden zerstört, ein Polizeiauto gerät in Brand, Demonstranten und Polizisten werden verletzt. Die Eskalation ist da.
Die Reden 30 Jahre nach dem friedlichen Umbruch in der DDR preisen die Helden der Straße. Aber kaum jemand stellt die Frage, warum es bei Verhaftungen und Polizeiprügeln blieb, warum kein Schuss fiel, nicht die „chinesische Lösung“ des Massakers am Tiananmenplatz im gleichen Jahr durchgesetzt wurde. Was geschah in den Oktobertagen 1989 hinter den Kulissen auf verschiedenen Leitungsebenen der Staatspartei SED?
Ganz oben im fünften Stock des Liebknecht-Hauses der Linken in Berlin trifft man 30 Jahre später den Vorsitzenden des Ältestenrats der Partei in einem schmucklosen Büro. 91 Jahre zählt Hans Modrow, der Ischias plagt ihn, und er wirkt nicht mehr ganz so drahtig wie einst. Aber die Erinnerung an jene entscheidenden Tage des Herbstes 1989 funktioniert stundengenau.
Hans Modrow: „Wir hatten ja wohl keinen Ernstfall“
Erst am Vormittag dieses 4. Oktober, einem Mittwoch, habe ihn ein Telegramm aus Berlin über die Zugfahrten informiert, berichtet Modrow, immer noch verärgert wirkend. Um 17 Uhr rief ihn der hilflose DDR-Verkehrsministers Otto Arndt an. Die Transportpolizei sei mit dem Andrang der Fluchtwilligen überfordert, die Bereitschaftspolizei bereits komplett mobilisiert. Den Einsatz der „Kampfgruppen der Arbeiterklasse“, paramilitärischer Streitkräfte aus den Betrieben, lehnte Modrow, der als als Erster Sekretär der SED-Bezirksleitung eine Schlüsselstellung einnahm, ab. Auch die Bezirkseinsatzleitung habe er in diesen und den folgenden Tagen nicht zusammengerufen. „Wir hatten ja wohl keinen Ernstfall mit Krieg“, bekräftigt Modrow seine damalige Haltung.
Wohl aber greift er das Ansinnen von Volkspolizei und Staatssicherheit auf, die Nationale Volksarmee um Hilfe zu bitten, und wendet sich damit an Armeegeneral Heinz Kessler. Tatsächlich werden Soldaten zur Sicherung der Gleisanlagen eingesetzt, allerdings nicht gegen Demonstranten. „Es durfte nicht zur Katastrophe, etwa durch Unfälle, kommen“, sagt Modrow heute wie damals. „Die überfüllten Züge mussten auf jeden Fall durchfahren!“
In den folgenden Tagen steht in Dresden der Ausgang der allabendlichen Proteste auf der Kippe. Völlig ungewohnt ist den Protestierenden das Erscheinungsbild der Bereitschaftspolizisten mit Visierhelmen, Gummiknüppeln und Schilden, auf die sie wie römische Legionäre vor einem Angriff rhythmisch schlagen. Wer nicht schnell genug rennt, gerät in Gefahr, brutal verhaftet zu werden.
Spätestens jetzt fühlt die gesamte DDR, dass der 40. Geburtstag der Republik am Samstag, dem 7. Oktober, zu einem Kulminations- und Entscheidungstag werden könnte. Im vogtländischen Plauen werden an diesem Tag etwa 15.000 Demonstranten durch Wasserwerfer der Feuerwehr auseinandergetrieben. „Wir hatten wirklich Angst, auch vor Kampfgruppen und Militär“, erinnert sich der spätere Landessprecher der sächsischen Bündnisgrünen, Volkmar Zschocke. an die Demonstration von 800 Bürgern in Karl-Marx-Stadt. Die Polizei löst die Demo auf. Vor allem aber werden die gespenstischen Jahrestagsfeiern in Berlin von heftigen Protesten begleitet. Massenfestnahmen folgen.
Egon Krenz: „Politische Probleme politisch lösen“
30 Jahre später ist ein 82-Jähriger ein viel gefragter Interviewpartner. Das sprichwörtliche Grinsen sucht man heute vergeblich an Egon Krenz, der am 18. Oktober 1989 Staats- und Parteichef Erich Honecker nachfolgte. Nach seinen Erinnerungen könnte eine Besprechung bei Staatssicherheitsminister Erich Mielke am Sonntag, dem 8. Oktober, unter Politbüromitgliedern und Generälen die Weichen für einen friedlichen Verlauf der Umwälzungen gestellt haben. Erst einen Tag zuvor war Krenz ein Schreiben Erich Honeckers an die 1. Sekretäre der Bezirksleitungen bekannt geworden. Darin verlangte er, dass „feindliche Aktionen im Keim erstickt werden müssen“.
An diesem Vormittag sitzt den führenden Genossen noch die Blamage der Berliner Proteste in den Knochen. Am Ende der Beratung zieht Krenz nach eigener Aussage eine mit wenigen anderen abgestimmte Erklärung für das Politbüro der SED aus der Tasche. Tenor: „Politische Probleme müssen auch mit politischen Mitteln gelöst werden!“ Applaus, ein Affront gegen Honecker. „Von diesem Moment an wird es keine gewaltsamen Auseinandersetzungen mehr geben“, schreibt Krenz in seinem Buch „Herbst 89“.
Im Gespräch behauptet er, neben entsprechenden Anweisungen an alle Stasi-Bezirksverwaltungen habe auch der damals schon recht senile Mielke den Leipziger Stasi-Bezirkschef Manfred Hummitzsch kontaktiert, um am 9. Oktober ein Blutvergießen zu vermeiden.
Hans Modrow, damals Dresdner SED-Bezirkschef
Vor Leipzig aber geht die SED in Dresden noch einen Schritt weiter und ermöglicht erstmals den Dialog zwischen dem Volk und seinen angeblichen Vertretern. Mit der Einkesselung von etwa 4.000 Demonstranten droht dort am Abend des 8. Oktober eine weitere Eskalation. Der damalige Kaplan an der Katholischen Hofkirche, Frank Richter, und ein evangelischer Amtskollege vermitteln zwischen den Demonstranten und aufgeschlossenen Polizisten. Spontan und zufällig wird die „Gruppe der 20“ ausgewählt, um am nächsten Morgen mit dem Dresdner Oberbürgermeister zu sprechen.
Berghofer: Reden mit der Oppostion
Der heißt zu dieser Zeit Wolfgang Berghofer, wird zuweilen „Bergatschow“ genannt und gilt als Reformer in der SED. Heute arbeitet der 76-Jährige als Unternehmensberater in Berlin. Bei ihm sind an diesem Sonntagabend 1989 Landesbischof Johannes Hempel, Oberlandeskirchenrat Reinhold Fritz und Superintendent Christof Ziemer erschienen. Sie bitten um genau jene Deeskalation, die sich basisdemokratisch gerade auf der Prager Straße vollzieht. Später dürfen sie per Megafon zu Polizei und Bürgern sprechen.
Berghofer stimmt sich pflichtgemäß im Nachhinein mit SED-Bezirkschef Hans Modrow ab, nachdem dieser eine „Fidelio“-Inszenierung an der Semperoper verlassen hat. Der hält ihm zu dieser Zeit den Rücken frei. „Wir schätzen die Lage ein und fragen nicht in Berlin nach“, begründet Modrow heute seine Alleingänge. Das heißt nicht, dass er plötzlich vom Glauben an den Sozialismus abgefallen wäre. In der Nacht erarbeiten er und sein Mitarbeiter Werner Kaulfuß eine Handreichung für Berghofers Begegnung mit der Gruppe der 20 am Folgetag. An die hält sich der Oberbürgermeister aber nur bedingt, obschon er bereits morgens um 6 Uhr bei der Bezirksleitung antanzen muss. Ab 9 Uhr reden dann erstmals Vertreter der Straßenproteste und Berghofer als Vertreter der Staatsmacht miteinander.
In Leipzig weiß man noch nichts von der Dresdner Wendung. Seit Wochen finden dort die Montagsdemonstrationen immer mehr Zuspruch. Pfarrer Christoph Wonneberger hat wegen der zu erwarteten Rekordteilnehmerzahlen einen Aufruf zur Gewaltlosigkeit verbreitet. Ungleich größere Wirkung erreicht aber ein Aufruf der schon länger agierenden Gruppe der sechs, den Gewandhauskapellmeister Kurt Masur über den Sender Leipzig und den Stadtfunk vorträgt. Friedlich und unbehelligt stellen am Montag, dem 9. Oktober, 70.000 Bürger die Weichen für die Unumkehrbarkeit des Aufbruchs in der DDR.
Kurt Meyer: „Das kann man nicht zulassen!“
Drei Akteure dieser Sechsergruppe waren Sekretäre der SED-Bezirksleitung. Als Kopf galt der für Kultur zuständige Kurt Meyer. 30 Jahre später schildern er und sein damaliger Genosse Roland Wötzel die Ratlosigkeit des amtierenden ersten Sekretärs der Bezirksleitung, Helmut Hackenberg. Der versucht per Telefon von Egon Krenz Handlungsanweisungen aus Berlin zu bekommen. Aber Krenz lässt ihn hängen, während ihn die Sekretäre drängen, alle Einsatzfahrzeuge zurückzuziehen. Mehr als 1.000 Unteroffiziersschüler, die nach Leipzig mobilisiert werden sollen, verweigern ihren Einsatz. Achselzuckend resigniert Hackenberg.
Doch die drei SED-Aufsässigen werden am nächsten Tag im Gebäude der Bezirksleitung unter Hausarrest gestellt. Meyer erhält vom sowjetischen Generalkonsul das Angebot politischen Asyls in der Sowjetunion. Tatsächlich fliegt er mit seiner Frau nach Kiew aus, wo er ohnehin eine Leipzig-Ausstellung eröffnen wollte.
Auf verschiedenen Ebenen haben verantwortungsbewusste SED-Funktionäre die Vermeidung eines Blutbads über den unbedingten Machterhalt gestellt. 2019 spricht sogar der damalige Kaplan Frank Richter bei einer Begegnung mit Egon Krenz anerkennend von der „politischen Intelligenz und Friedfertigkeit derer, die damals auf der anderen Seite standen“.
Diese Entscheidungen in der ersten Oktoberdekade 1989 hatten natürlich ihren Vorlauf in den wachsenden Zweifeln an der realen Umsetzung sozialistischer Ideale auch unter den 2,3 Millionen Mitgliedern der SED. Das „Durcheinander in Berlin“, wie es Hans Modrow nennt, der Abriss der Befehlsketten in den Oktobertagen, zeigte die Erosion innerhalb der Partei. Das Eingreifen sowjetischer Panzer musste nach der Sitzung des Politischen Beratenden Ausschusses der Warschauer Vertragsstaaten vom Juli 1989 in Bukarest nicht mehr befürchtet werden, davon war Modrow überzeugt. KPdSU-Generalsekretär Michail Gorbatschow verzichtete auf Interventionen.
In Leipzig resümiert der 83-jährige Kurt Meyer: „Wir pochen nicht darauf, dass wir die friedliche Entwicklung gesichert haben. Wir sagen nur, dass wir damals unserem Gewissen gefolgt sind, unseren Erfahrungen, unserem Lebensstil und gesagt haben: Das kann man nicht zulassen!“
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Hybride Kriegsführung
Angriff auf die Lebensadern
Kinderbetreuung in der DDR
„Alle haben funktioniert“
BSW in Koalitionen
Bald an der Macht – aber mit Risiko
Niederlage für Baschar al-Assad
Zusammenbruch in Aleppo
Dieter Bohlen als CDU-Berater
Cheri, Cheri Friedrich
„Männer“-Aussage von Angela Merkel
Endlich eine Erklärung für das Scheitern der Ampel