Französisch Übersee: Konfetti in Aufruhr
Frankreich ist ein Weltreich. Und es sieht nicht so aus, dass es schrumpfen würde. Auch wenn Neukaledonien über seine Unabhängigkeit abstimmt.
Weil diese Reste eines der einst größten Kolonialreiche über alle Weltmeere verstreut sind, werden sie gelegentlich mit sehr eurozentristischer Herablassung „das Konfetti der französischen Republik“ genannt. Sie haben einen unterschiedlichen staatsrechtlichen Status: Guadeloupe und Martinique in der Karibik, Französisch-Guyana auf dem südamerikanischen Subkontinent, La Réunion und Mayotte östlich von Afrika im Indischen Ozean sind vollberechtigte Departements, Französisch-Polynesien genießt bereits eine Teilautonomie, während Saint-Pierre-et-Miquelon vor der Küste Kanadas und Wallis-et-Futuna im Südpazifik sowie die Inseln und Gebiete vor der Antarktis je einen Sonderstatus haben.
Präsenz rund um den Globus
Auch wenn der Sammelbegriff für die entlegenen Gebietskörperschaften, auf denen insgesamt mehr als 1,6 Millionen französische Bürger*innen leben, verächtlich klingt, dachte niemand in den Regierungen der letzten Jahrzehnte ernsthaft daran, sie leichtfertig wegzuwerfen wie Konfetti. Dafür sind die politischen, geostrategischen und wirtschaftlichen Interessen an der damit verbundenen Präsenz rund um den Globus viel zu wichtig. Und ebendamit (sowie mit dem Besitz der Atomwaffen) rechtfertigt Frankreich den Anspruch auf seinen permanenten Sitz im UNO-Sicherheitsrat. Auch für die derzeitige Staatsführung in Paris besteht das Problem darin, die regelmäßig aufflackernden Rebellionen oder Konflikte und Autonomieforderungen in diesen Tausende Kilometer vom europäischen Festland entfernten Überseegebieten möglichst ohne Gesichtsverlust vor der Weltöffentlichkeit beizulegen – oder notfalls sogar mit brutaler Repression niederzuschlagen.
Auf Guadeloupe und Martinique protestierten zuletzt die Gewerkschaften mit einem Generalstreik gegen die hohen Lebenshaltungskosten. Auslöser der seit Wochen anhaltenden Konflikte, bei denen es zu Plünderungen und sogar Schusswechseln mit der Polizei kam, war die Covid-Impfpflicht für das Personal des Gesundheitswesens und die Feuerwehr.
Die Kolonie Neukaledonien
Zum dritten Mal wird am Sonntag auf Neukaledonien über die Unabhängigkeit von Frankreich abgestimmt. 2018 und 2020 votierte eine Mehrheit (zuerst mit 56,7 und zwei Jahre später nur noch mit 53,3 Prozent) für den Verbleib beim „Mutterland“ Frankreich. Am 12. Dezember 2021 ist das Resultat, eine viel deutlichere Ablehnung der geplanten schrittweisen Loslösung von der ehemaligen Kolonialmacht, absehbar. Die Befürworter der Unabhängigkeit boykottieren nämlich die Abstimmung. Damit dürfte voraussichtlich der von Frankreich seit 1988 eingeleitete Prozess einer Entkolonisierung Neukaledoniens bis auf Weiteres scheitern. Und damit auch der Versuch einer Vermittlung zwischen den antagonistischen Lagern. Zum einen sind das die einheimischen melanesischen „Kanak“ (sie machen noch rund 44 Prozent der Bevölkerung aus) und zum anderen die europäischstämmigen „Caldoches“ (circa 34 Prozent). Die restlichen Bevölkerungsgruppen stammen wiederum aus Polynesien und Indochina).
Die Front Kanak et socialiste
Das oberste Verwaltungsgericht in Paris hat in dieser Woche definitiv den Antrag der Unabhängigkeitsbewegung Front de libération nationale kanak et socialiste (FLNKS) auf Verschiebung des Urnengangs abgewiesen. Die FLNKS hatte unter anderem wegen der Coronapandemie gefordert, dass diese Volksbefragung von historischer Bedeutung erst nach den französischen Präsidentschafts- und Parlamentswahlen im kommenden Jahr stattfinde. Damit sollte Zeit gewonnen werden, um die Chancen für ein Ja zur Unabhängigkeit zu verbessern. Weil die Zentralregierung und nun auch die Justiz in der fernen Hauptstadt Paris dem verlangten Aufschub nicht stattgeben will, boykottieren die Kanak die Konsultation. Sie sprechen von einer „Missachtung der Politiker und Stammesvertreter des Kanak-Volks“ und wollen die Sache allenfalls vor internationalen Instanzen verhandeln. Sie wissen, dass das der Staatsführung in Paris peinlich werden kann, weil Neukaledonien wie Französisch-Polynesien (Tahiti) weiterhin auf der UNO-Liste der „nicht-selbstregierten“, das heißt noch zu entkolonisierenden Territorien steht.
Der Minister für „Outre-mer“
Innerhalb der FLNKS herrscht Uneinigkeit bezüglich der besten Strategie, die französische Vormundschaft loszuwerden, was die Position der Befürworter der Unabhängigkeit schwächt. Der französische Minister für die „Outre-mer“ (die Überseegebiete und -départements), Sébastien Lecornu, verspricht, er wolle nach dem erwarteten dritten Nein zur Unabhängigkeit am Sonntag einen konstruktiven Dialog in Neukaledonien mit dem von ihm auf 45 Prozent geschätzten Bevölkerungsanteil der Befürworter fortsetzen. Die nach blutigen Konflikten ausgehandelten Verträge von 1988 und 1998 sahen vor, dass spätestens nach einer dritten Abstimmung ein schrittweiser Übergang in die Souveränität von „Kanaky-Nouvelle-Calédonie“ beginnen sollte. Dass die Stimmberechtigten dies drei Mal ablehnen würden, war in diesem Protokoll nicht vorgesehen. Eine Rückkehr zum Ausgangspunkt bedeutet aber auch das Risiko erneuter gewaltsamer Aufstände und Auseinandersetzungen wie in der Vergangenheit.
Sklaverei und Deportation
Dieser Text stammt aus der taz am wochenende. Immer ab Samstag am Kiosk, im eKiosk oder gleich im Wochenendabo. Und bei Facebook und Twitter.
Für Frankreich geht es nicht nur um den Frieden in einer fernen „Provinz“. Die Gefahr, dass sich die Dynamik der Entkolonisierung auf andere Teile von Übersee ausweitet, ist für Paris real. Zwar mag häufig ein anderer Eindruck entstehen, wenn beispielsweise die lokalen Parteien, die sich in Martinique oder Guadeloupe die Unabhängigkeit auf ihre Fahnen schreiben, eher die Vorteile einer Zugehörigkeit zu Frankreich verteidigen: Einfacher Finanztransfer, das Gesundheits- und Schulsystem und der Zugang zu Beamtenstellen würden bei einer Trennung zwangsläufig wegfallen. Doch die frühere Sklaverei, Deportationen in Straflager (etwa auf die Teufelsinsel vor Guyana) und die blutige Niederschlagung von Streiks und Aufständen belasten noch immer die Beziehungen und wirken sich auch auf das Geschichtsbewusstsein in Übersee-Frankreich aus. Wiederholt kommen diese Probleme bei sozialen Konflikten an die Oberfläche.
Gold, Nickel und Touristen
Abgesehen von den politischen Risiken eines Dominoeffekts hat die Zentralmacht in Paris auch alles Interesse, ihre „Besitzungen“ in den Meeren am anderen Ende der Welt zu verteidigen. Mit deren Gestaden verfügt Frankreich über enorme Seehoheitsgewässer mit Fischereirechten und einen riesigen Meeresgrund mit potenziell abbaubaren Rohstoffen in den sogenannten Ausschließlichen Wirtschaftszonen. Deswegen ist selbst die unbewohnte französische Insel Clipperton vor der nordamerikanischen Küste von größtem Interesse. Das belegen schon die gegenwärtigen Wirtschaftsinteressen: In Guyana wird vor allem Gold abgebaut, in Neukaledonien ist die Produktion von Nickel von großer Bedeutung – um die Frage, wer diese Nickelminen kontrollieren und nutzen darf, gab es seit Jahrzehnten Streit. Auf den französischen Antillen Martinique und Guadeloupe wiederum (mit den Inseln Saint-Barth und Saint-Martin) ist heute der Tourismus noch vor Zuckerrohr und Bananen die wichtigste Einkommensquelle.
Eine Übung für die Katz
Absehbar ist, dass Frankreich weder auf seine strategischen und wirtschaftlichen Interessen im einstigen Kolonialreich noch auf den Rang als Weltmacht verzichten wird. Auch die Kanak werden ihre historischen Ansprüche auf Selbstbestimmung nicht aufgeben und deshalb am Boykott festhalten. So folgert man nun in Frankreichs unruhigem Übersee: Die Befragung am Sonntag ist eine Alibiübung für die Katz.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Rekrutierung im Krieg gegen Russland
Von der Straße weg
Deutschland braucht Zuwanderung
Bitte kommt alle!
Umfrage zu Sicherheitsgefühl
Das Problem mit den Gefühlen
Ärzteschaft in Deutschland
Die Götter in Weiß und ihre Lobby
Verkehrsvorbild in den USA
Ein Tempolimit ist möglich, zeigt New York City
„Freiheit“ von Angela Merkel
Die Macht hatte ihren Preis