Film „Pacifiction“ von Albert Serra: Wie ein schwüler Schleier

In „Pacifiction“ auf Tahiti inszeniert Albert Serra in tropischer Langsamkeit ein Drama zwischen Kolonialismus und Verschwörungstheorien.

Ein Mann und eine Frau stehen auf einer Veranda. Die Frau ist oben ohne und verdeckt alles mit ihren verschränkten Armen

De Roller (Benoît Magimel) und Shannah (Pahoa Mahagafanau) Foto: Filmgalerie 451

Für ein tadel- und makelloses Auftreten dürfen keine Mühen gescheut werden. Das weiß auch De Roller, der als französischer Regierungsbeamter auf Tahiti arbeitet. Selbst bei einem Ausflug zu einem Surfwettbewerb draußen im Pazifik trägt er seinen weißen Anzug. Dazu ein leicht aufgeknöpftes Hemd mit Blumenmuster und eine blaugetönte Sonnenbrille. Nur auf seine orange-braunen Moccasins hat er diesmal verzichtet.

Barfüßig beobachtet er, auf einem Jetski sitzend, wie wenige Meter entfernt ein Surfer eine gigantische Welle reitet, bevor diese in tosendem Rauschen bricht und ihre Gischt die umliegenden Zu­schaue­r:in­nen auf ihren Booten knapp verfehlt. Zweifellos eine der beeindruckendsten Szenen in „Pacifiction“, dem neuen Film des spanischen Regisseurs Albert Serra.

De Roller ist der Hochkommissar Tahitis und somit offizieller Repräsentant Frankreichs, zu dem die autonome Region Französisch-Polynesien formell gehört. In seiner Funktion verkehrt er ebenso wortgewandt und selbstsicher in gehobenen Kreisen wie in zwielichtigen Etablissements, in denen er sich nach den neuesten Gerüchten erkundigt – immer darauf bedacht, die Belange der In­sel­be­woh­ne­r:in­nen auszuloten.

Wenn er dabei polynesischen Tän­ze­r:in­nen auf süffisante Art erklärt, dass sie ihren traditionellen Hahnentanz mit mehr Aggressivität aufführen sollen, gleicht er jedoch mehr einem einstigen Kolonialverwalter als einem diplomatischen Gesandten. Worin seine eigentliche Arbeit besteht, bleibt schleierhaft – wie vieles in diesem rätselhaften, aber nicht minder faszinierenden Film.

Das lüsterne Leben französischer Adliger

Mit „Pacifiction“ betritt der Regisseur Albert Serra inhaltlich neues Terrain. In den letzten Jahren sorgte er vor allem mit seinen Avantgarde-Filmen über das lüsterne Leben französischer Adliger und deren Niedergang („Liberté“, „Der Tod von Ludwig XIV.“) oder seiner exzentrischen Casanova-Verfilmung „Story of My Death“ für Aufsehen.

„Pacifiction“. Regie: Albert Serra. Mit Benoît Magimel, Pahoa Mahagafanau, Marc Susini u.a. Frankreich/Spanien/Deutschland/Portugal 2022, 163 Min.

Sein neuester Film dürfte zugleich sein bisher gefälligster sein. Im Gewand eines Film noir verhandelt er die koloniale Vergangenheit Tahitis. Denn unter der Bevölkerung wird gemunkelt, dass auf einem nahegelegenen Atoll wieder Atomtests durchgeführt werden sollen. Draußen auf dem Meer solle sich schon ein französisches U-Boot aufhalten.

De Roller versucht den Gerüchten auf den Grund zu gehen und die In­sel­be­woh­ne­r:in­nen in ihrer Sorge zu beschwichtigen, die massive Proteste ankündigen, sollte sich das Gerede bewahrheiten. Tatsächlich führte Frankreich zwischen 1966 und 1996 auf dem Mururoa-Atoll mehr als 200 Atomtests durch. In der Zeit wurde Tahiti einer Strahlenbelastung ausgesetzt, die das 500-Fache der zulässigen Höchstwerte betrug. Ein sprunghafter Anstieg von Krebserkrankungen war die Folge.

Pandemieleere Insel

Diese dramaturgische Prämisse nutzt Serra für seine so beunruhigende wie bildgewaltige Szenerie, die er inmitten südpazifischer Urlaubsromantik aufbaut. Um eine konven­tio­nelle Narration schert er sich dabei wenig. „Eigentlich habe ich nichts zu sagen. Ich habe nur Bilder“, sagte er in einem Interview mit MUBI Notebook. Und seine Bilder samt ihrer atmosphärischen Dichte sind überwältigend.

Gäste auf einer Party in polynesischer Tracht

De Roller, Hochkommissar der französischen Republik auf der Insel Tahiti Foto: Filmgalerie 451

Gedreht wurde 2021, als aufgrund der Pandemie keine Touristen auf der Insel waren. Das dadurch verstärkte Gefühl der Abgeschiedenheit, die dunstig schimmernden Aufnahmen Tahitis und die tropische Langsamkeit, die sich wie ein schwüler Schleier über den Film legt, entwickeln einen Sog, dem man sich trotz einer Länge von knapp zweieinhalb Stunden nicht entziehen kann.

Der Film folgt ausschließlich der Perspektive De Rollers und wie er mit unerschütterlicher Vehemenz seine nebulöse Agenda verfolgt. Benoît Magimel, der letztes Jahr den französischen Filmpreis für seine Rolle als krebskranker Schauspiellehrer in „In Liebe lassen“ gewann, spielt De Roller mit gekonnter Lässigkeit und erinnert zuweilen an Jack Nicholson in Roman Polanskis Neo-Noir-Klassiker „Chinatown“.

Ob im kumpelhaften Austausch mit einem augenscheinlich korrupten Bürgermeister, in Zwiegesprächen im örtlichen Nachtclub oder während seiner Nachforschungen auf der Insel: De Roller ist immer bedacht, den richtigen Ton zu treffen, um die Ordnung zu bewahren, die im Falle neuer Atomtests aus den Fugen zu geraten droht.

Aber handelt es sich wirklich um mehr als nur ein Gerücht? Schließlich tauchte vor Kurzem ein französischer Admiral mit einer Gruppe Matrosen auf. Oder ist es nur Paranoia, die sich langsam, aber merklich auf der Insel ausbreitet? Eine stetig verschwommene und unscharfe Wahrnehmung der Realität durchzieht den Film wie ein Leitmotiv.

Serra hat nach eigenen Angaben auf ein fertiges Skript verzichtet und während des Drehs seinem Schauspieler Magimel über Kopfhörer improvisierte Dialoge zugeflüstert. Erst im Schnitt erhielt der Film die vorliegende Form. Herausgekommen ist ein herausragendes Beispiel für die Wirkmacht des Kinos. Serra erzählt nur anhand seiner Bilder, ohne zu erklären. Und mehr braucht es für diesen mehr als außergewöhnlichen Film auch nicht.

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