Fotografie-Ausstellung in Braunschweig: Poesie statt Plakativität

Im Braunschweiger Museum für Photographie beschäftigen sich acht junge Künst­le­r:in­nen mit Protestkulturen und digitalen Bildwelten.

Zwei Bagger reißen das Kirchenschiff des Immerather Doms ein. Die Kirche in der nordrheinwestfälischen Stadt Erkelenz ab, die dem Braunkohletagebau Garzweiler II weichen muss.

Kirche vs Kohle: Der Immerather Dom muss dem Braunkohletagebau Garzweiler II weichen Foto: Daniel Chatard

BRAUNSCHWEIG taz | „Drücken Sie den Home-Button zum Entsperren“, liest man auf Kyrillisch im Display von Igor Samolets Mobiltelefon. Als wechselnde Hintergrundbilder verwendet der Moskauer Fotograf ganz offensichtlich gerne Szenen mehr oder weniger aktiven Aufbegehrens. Da wären behelmte Sicherheitskräfte und Menschen hinter Absperrgittern, Partytreiben auf dem alten Parkett einer Wohnung oder das kleine Putin-Foto, das irgendjemand achtlos zwischen zwei Fensterflügel geklemmt hat.

Der 1984 in der russischen Provinz geborene Samolet hat unter anderem an der Moskauer Rodchenko-Schule für Fotografie und Multimedia studiert. Er heimste in den vergangenen Jahren einige Auszeichnungen in der Schweiz ein sowie bereits 2014 den Deutschen Fotobuchpreis in Silber für sein Bild-, Text- und Grafikopus „Be happy!“.

Derzeit ist er einer von acht jüngeren Künst­le­r:in­nen oder Noch-Studierenden, die das Museum für Photographie in Braunschweig für eine Querschnittsschau zu Protestkulturen und digitalen Bildwelten eingeladen hat. Samolet hat dafür einige stark vergrößerte Handy-Fotos seiner Serie „Cuddle Porn“, deutsch: Kuschel-Porno, recht simpel auf Styroporblöcke aufgezogen und zu einer äußerst uneitlen Installation direkt auf dem Fußboden arrangiert.

Als Ku­ra­to­r:in­nen der Ausstellung bestätigten sich die beiden wissenschaftlichen Mitarbeitenden Franziska Habelt und Finn Schütt, vom Alter her in der Generation der Ausstellenden zu Hause. Sie gingen aktuellen gesellschaftlichen, aber auch ganz persönlichen Umbruchprozessen nach, die sich in unterschiedlichen Formen dokumentierender Fotografie niederschlagen. Diese Sparte der Fotografie hat im Braunschweiger Haus ihren festen Platz, zyklisch etwa werden die prämierten Arbeiten des Förderpreises Dokumentarfotografie der Wüstenrotstiftung gezeigt. Die Preisschau fiel im Frühjahr 2020 allerdings dem ersten Coronalockdown zum Opfer.

Kamera als Waffe

Aber auch die „Kamera als Waffe“ gegen gesellschaftliche und politische Missstände, wie sie der Schwarze US-amerikanische Fotograf Gordon Parks verstand, hat eine Tradition im Museum. So verweisen die beiden Ku­ra­to­r:in­nen auf das umfangreiche Ausstellungsexperiment „Kairo. Offene Stadt. Neue Bilder einer andauernden Revolution“, das 2012 den Blick auf die Digitalfotos sozialer Netzwerke während der so genannten „Twitter-Revolution“, dem arabischen Frühling, richtete, ihre Rolle in der politischen Mobilisierung untersuchte, aber auch den repressiven Umkehrschluss in den Kontroll- und Propagandamechanismen staatlicher Instanzen.

Transitions. Protestkulturen und digitale Welten im Wandel

bis 27. März, Museum für Photographie Braunschweig,

https://www.photomuseum.de

Von der deutschen Sektion des internationalen Kunstkritikerverbandes zur „Ausstellung des Jahres 2013“ gewählt, machten die Kairo-Bilder später unter anderem im Hamburger Museum für Kunst und Gewerbe Station.

Protest als Poesie

„Transitions“, so der englische Titel der aktuellen Ausstellung, zeigt eine ganze Bandbreite von fotografischen Interpretationen, die nicht plakativem Protestgebaren Raum geben, sondern eher poetische Übersetzungsformen favorisieren.

Einen klassischen Beitrag etwa hat der deutsch-französische Fotograf Daniel Chatard verfasst. Er verfolgte zwischen 2017 und 2021 in konzentriert dokumentarischer Weise die Proteste in der rheinischen Braunkohleregion um das Aktionszentrum Hambacher Forst. Er fotografierte Baumhäuser der Waldbesetzer:innen, die riesigen Verwüstungen nach dem Wirken der Schaufelradbagger in diesem „Niemandsland“, so der Titel, oder auch den Immerather Dom St. Lambertus. Diese historistische Kathedrale auf romanischem Vorgängerbau, erbaut im Jahr 1891, fiel im Januar 2018 dem Abriss zum Opfer. Der 1996 in Heidelberg Geborene hat im Hannover Fotojournalismus und Dokumentarfotografie studiert und setzt derzeit sein Studium in Den Haag fort.

Daniel Chatard verfolgte dokumentarisch die Proteste in der rheinischen Braunkohleregion

Ebenfalls noch Studierende, in diesem Fall an der Hochschule für bildende Künste in Hamburg, sind Georg Kußmann, 1989 in Halle geboren, und Kristina Savutsina, sie kam im selben Jahr in Riga als Kind belarussischer Eltern zu Welt. Zusammen mit Kußmann hat sie einen 57-minütigen Film über das provinzielle Leben in Belarus verfasst, dessen unfreiwillige Komik viel über das Sich-einrichten-müssen in diesem widersprüchlichen System erzählt.

Kußmann begleitet mit einem Konvolut älterer Kleinbilddias. Es läuft als Endlosschleife, zeigt austauschbare Orte eher melancholischen Charmes in Ost- wie Westdeutschland, darunter auch Motive aus Braunschweig.

Private Momente der Jugend

Divergente Jugendkulturen, besonders in Osteuropa, interessierten Julia Autz für ihre prämierte Serie „While I was waiting“. Sie unterscheidet zwischen dem Agieren ihrer Protago­nis­t:in­nen im öffentlichen Raum, das sie in klaren schwarz-weißen Bildpaaren aus unterschiedlicher Nähe dokumentiert, und privaten Momenten. Für sie wählte Autz eine eher verträumte Bildsprache in Farbe, gibt so diesen noch unklaren Lebensphasen adoleszenter Selbstfindung ästhetischen Raum. 1988 in Heidelberg geboren, hat Autz in Darmstadt und Bielefeld studiert, lebt in Berlin und arbeitet an Bildreportagen im In- und Ausland.

Unter dem Künstlernamen Bob Jones beschäftigt sich die Studentin der Leipziger Hochschule für Grafik und Buchkunst, Eli Eichler, mit den Erosionsprozessen menschlicher Begegnung während der Pandemiejahre. Wie verloren im Digitalen habe sie sich in den obligaten Videobesprechungen gefühlt, erzählt die 1988 in Marburg Geborene, und suchte deshalb Formen der Rematerialisierung.

Sie fertigte Screenshots einzelner Gesichter, druckte sie auf alte Overheadfolien, die in ihrer Küchendunkelkammer dann als Negative für Schwarz-Weiß-Abzüge fungierten. Durch diese Transformation haben die Physiognomien zwar viel ihrer individuellen Erkennbarkeit eingebüßt, die analoge Technik suggeriert aber ein anderes Maß an Authentizität und Unmittelbarkeit einer Begegnung.

Ein Tableau in der Manier Christian Boltanskis versammelt die Bildnisse und stellt dabei auch die Frage, was eigentlich mit unserem so leichtfertig im digitalen Austausch zurückgelassenen Konterfei passiert. Ist nicht das Recht am eigenen Bild ein mindestens ebenso existenzielles Gut wie unsere sogenannten „personenbezogenen Daten“?

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