Forscher über Umgang mit Armut: „Wir müssen die Heuchelei beenden“
Armut ist überall, wird aber oft ignoriert. Soziologe Franz Schultheis über mediale Klischees und wie arme Menschen sich ihre Würde zurückerobern können.
taz: Herr Schultheis, warum fällt es unserer Gesellschaft schwer, Armut zu sehen?
Franz Schultheis: Darauf gibt es nicht die eine richtige Antwort, sondern viele – die zum Teil komplementär sind. Man muss unterschiedliche Faktoren berücksichtigen.
Welche?
Einmal ist Armut in der Regel nicht schön anzusehen. Oft wird ihr mit Ekel begegnet. Sie riecht auch oft nicht gut, wenn man neben ihr in der U-Bahn sitzt. Andererseits ist es ein moralisches Problem, dass wir uns Armut erlauben: Wir haben eine Gesellschaft mit einem extrem hohen Lebensstandard, gleichzeitig muss jedes fünfte Kind unter der Armutsgrenze hausen.
69, Soziologe, ist Professor an der Zeppelin-Universität Friedrichshafen und betreut selbstermächtigende Studien mit langzeitarbeitslosen Nichtwählern.
Weil das peinlich ist, schaut man aktiv weg?
Ja. Man vermeidet den Blick auf die Armut. Man kann das als kollektive Verdrängung bezeichnen, ganz im Freud’schen Sinne: Was Widerstand hervorruft, wird verdrängt. Also meidet man bestimmte Stadtviertel, wechselt den Platz in Bus und Bahn und guckt lieber ganz entspannt in die Luft, um nach den Vögeln zu schauen. Der Armut ins Gesicht zu sehen, ist eine Herausforderung.
Gibt es nicht auch umgekehrt den Impuls, sich zu verbergen?
Das stimmt. Auch der Arme selbst ist verschämt. Diese zweite Seite ist sehr wichtig. Sie kommt von einer gesellschaftlichen Stigmatisierung her. Armut gilt in einer Gesellschaft als Makel, die teilweise meritokratisch ist.
Teilweise?
Ja, denn es ist mindestens zum Teil eine Lüge, dass man es in dieser Gesellschaft allein mit guten Leistungen zu etwas bringen kann. Aber zum Selbstverständnis einer liberalen Demokratie gehört, dass jedem nach seinen Fähigkeiten gegeben wird. Dann kommt es dazu, dass Gruppen diesen Leistungsstandards nicht gewachsen sind. Dieser Widerspruch wird aufgelöst, indem man behauptet, dass sie das nicht wollen: also alles Faulenzer! Und jetzt kommt es zu einem Effekt, den die Soziologen symbolische Gewalt nennen: Der dominante Blick auf die Welt wird übernommen. Man partizipiert an ihr, indem man sich ihr unterwirft.
… also sich für die eigene Armut schämt?
Ja. Und das hat Folgen: Wer sich schämt, vermeidet, sich in der Öffentlichkeit zu zeigen, huscht vielleicht morgens früh schnell zu Aldi oder Lidl, um seine Tagesration einzukaufen, und nimmt immer weniger am gesellschaftlichen Leben teil: Abends in die Kneipe, zum Volksfest gehen, Kinos oder erst recht Theater besuchen, all das fällt aus. Die Nichtsichtbarkeit führt daher auch zum Verlust von Bildungsmitteln.
… weil man sich die nicht leisten kann?
Nicht unbedingt. Das sind ja oft Dinge, die gratis zur Verfügung gestellt werden. Theoretisch könnten Armutsbetroffene auch gratis in ein Museum kommen. Vielen kommt das aber nicht in den Sinn: Sie wissen, dass sie dort als total deplatziert gelten würden. Armut ist insofern doppelgesichtig: Beide Seiten sind aktiv beteiligt an der Verdrängung, weil beide Seiten ein Interesse an ihrer Unsichtbarkeit haben.
Helfen dagegen die Standardfotos von Menschen, die bei der Tafel etwas entgegennehmen?
Die sind nicht begeistert, fotografiert zu werden, das kann ich Ihnen verraten: Keiner ist stolz, zur Tafel zu gehen. Es gibt welche, die dann doch genug Selbstbewusstsein haben, um in die Kamera zu gucken und zu sagen, ja, was wollt ihr jetzt? So ist es mit mir nun mal. Aber die große Mehrheit guckt lieber weg. Und dann gibt es diese Vorführungen, die einander unglaublich ähnlich sind …
Sie meinen die Reality-TV-Formate?
In denen werden Arme vorgeführt in einer für sie unglaublich unvorteilhaften Art, wo sie ständig rauchen und Alkohol trinken – also Vorurteile aktiv bestätigen. Da beteiligen sich Medien massiv am öffentlichen Skandal um Armut: Eigentlich müsste sich nicht der Arme schämen, sondern die Gesellschaft, die sich ein solches Maß an Armut erlaubt, trotz all des Reichtums.
Welche Auswege gibt es?
Es gibt Projekte, die das angehen. Ich begleite seit Jahren eines des Sozialunternehmens Neue Arbeit in Stuttgart. Es geht um Langzeitarbeitslose. Wir haben dort partizipative Forschung betrieben und daraus Bücher gemacht, an denen die Menschen selbst mitgeschrieben haben: Sie haben andere Arbeitslose interviewt. Da kommt ziemlich unverblümt raus, was die Leute wirklich empfinden, denken: dieses Gefühl, der letzte Dreck zu sein, Bürger zweiter Klasse. Das führt auch zur Verweigerung der Demokratie. Da, wo sie alle vier Jahre mal ein Kreuzchen machen könnten, um ihre Staatsbürgerrechte wahrzunehmen, sagen die: Ihr könnt mich mal.
Sodass Wahlen nicht sozial repräsentativ sind?
Das ist längst soziologischer Common Sense. Wir wissen genug über Armut. Wenig weiß man allerdings über die sozialpsychologische Lage derer, die hineingeraten in diese Armutsspirale: Man verliert die Arbeit, häuft Schulden an, muss irgendwie provisorisch wohnen, kann sich hygienisch nicht mehr so auf dem Laufenden halten: Fürs Vorstellungsgespräch in einem Betrieb reicht es dann irgendwann nicht mehr. Man verliert seine Kontakte, die Familie wendet sich ab, die Freunde …
Die Verluste beschleunigen sich selbst?
Es ist ein echter Teufelskreis. Wenn man da drin ist, ist es leicht, von außen zu sagen: Leute, rappelt euch mal auf, der Arbeitsmarkt hat sich so entspannt, ihr findet sofort etwas. Aber das geht völlig an den Realitäten vorbei! Wer in dieser Mühle drinsteckt, wird schnell lethargisch: Am Ende sagen die Leute von sich selbst, mich kann keiner mehr gebrauchen.
Wie lässt sich gegensteuern?
Wir müssen die kollektive Heuchelei beenden. Es gibt entsprechende Versuche. Hier mit den Leuten in Stuttgart haben wir momentan ein neues Projekt. Das heißt „Jetzt sprechen wir!“. Dabei geht es darum, dass die Gruppe von Langzeitarbeitslosen in die Öffentlichkeit tritt bei Veranstaltungen rund um die brennenden sozialen Fragen. Da ergreifen einige tatsächlich selbst das Wort, sie suchen das Gespräch mit Politikern, und zwar möglichst so, als wäre es ein Gespräch auf Augenhöhe. Es geht darum, klarzumachen: Wir sind diejenigen, um die ihr euch kümmern müsstet. Wir haben aber keine Lobby und es gibt keine Gewerkschaft für uns. Wir sind durch alle Löcher des Netzes gefallen.
Es gibt traditionelle Sichtweisen, die Armut romantisieren. Wäre das denn besser?
Armut zu romantisieren, ist das Schlimmste. Wenn man beginnt, da eine Bohème draus zu machen, das wäre das Letzte, was man braucht. Ein Blick von außen wird ermöglicht im Rahmen der spinozistischen Regel, den anderen nicht zu verabscheuen, nicht zu verlachen, nicht einfach zu bemitleiden, sondern eben zu versuchen, ihn zu verstehen: Das ist ein Blick, der ihnen die Menschenwürde belässt. Es gibt aber eben auch hier die Möglichkeit, den Betroffenen die Kamera in die Hand zu drücken, um sich selbst aus ihrem eigenen Blickwinkel sichtbar zu machen, alles, was sie glauben, was zu ihrem Alltag gehört – die Gegenstände, die ihnen bleiben, die Orte, wo, und die Leute, mit denen sie sind.
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