Forscher Knutti über die Klimakrise: „Abwarten wäre der falsche Weg“
Extremwetter wie Hurrikan Milton werden durch den Klimawandel häufiger. Forscher Reto Knutti fordert staatliches Handeln zur Meisterung der Krise.
taz: Herr Knutti, noch vor wenigen Jahren gingen Hunderttausende Menschen bei Fridays for Future auf die Straße. Heute sorgen allenfalls noch die Klimakleber für Aufsehen. Warum hat das Interesse an der Klimakrise derart nachgelassen?
Knutti: Ich würde das nicht ganz unterschreiben. Wenn die Menschen in Umfragen gefragt werden, was ihre größten Sorgen sind, ist der Klimawandel immer noch hoch auf der Agenda, zum Teil extrem hoch. Es liegt in der Natur solcher Bewegungen, dass sie sich nicht über Jahre hinweg aufrechterhalten. Nach der enormen Wachstumskurve am Anfang gibt es zwei Möglichkeiten: Entweder solche Bewegungen radikalisieren sich oder sie zerfallen. Wir haben beides gesehen.
Reto Knutti (51) ist Professor für Klimaphysik am Institut für Atmosphäre und Klima der ETH Zürich. Zudem hat er als Hauptautor am vierten und fünften Klimabericht des Weltklimarats (IPCC) mitgewirkt. Knutti hat in Bern Physik studiert, promoviert und anschließend am National Center for Atmospheric Research in Boulder, Colorado (USA), gearbeitet. Daneben engagiert er sich in der öffentlichen Diskussion, in den Medien und der Politik zu Klima, Umwelt, Nachhaltigkeit und der Rolle der Wissenschaft.
taz: Theoretisch gäbe es noch eine dritte Möglichkeit: dass die Klimaproteste enden, weil die Politik den Klimaschutz konsequent umsetzt. Warum glauben Sie, kam es nie dazu?
Knutti: Auch Gegenbewegungen sind normal. Außerdem hatten die Leute in den letzten Jahren viele andere Sorgen, von Covid über den Krieg bis zur Inflation. Im Moment brennt die Welt an allen Ecken und Enden. In Zeiten von wirtschaftlichen und sozialen Spannungen kommen sofort rechtsnationale Tendenzen ins Spiel.
taz: Mit der Folge, dass letztes Jahr das 1,5-Grad-Ziel, das die Weltgemeinschaft auf der Pariser Klimakonferenz beschlossen hat, zum ersten Mal gerissen wurde. Was bedeutet das fürs weltweite Klima?
Knutti: Die 1,5-Grad-Marke wurde in einem Jahr überschritten. Das ist noch nicht gleichbedeutend damit, dass sich die Welt im langfristigen Durchschnitt um mehr als 1,5 Grad erwärmt. Aber es wird so weit kommen, das ist völlig klar. Irgendwann in den 2030er-Jahren passiert das. Wir sind nicht annähernd auf Kurs, weil geopolitische Themen gerade wichtiger sind. Der Umwelt- und Klimaschutz tritt in solchen Phasen immer zurück, obwohl der Klimawandel natürlich keine Pause macht. Wir sehen es überall an den Hochwassern, den Felsstürzen, den Waldbränden.
taz: Auf welche Klimaveränderungen müssen wir uns Europa in den nächsten zehn, 20 oder 30 Jahren einstellen?
Knutti: Zehn Jahre sind vielleicht ein bisschen kurz. Aber wenn wir 30 Jahre oder mehr in die Zukunft gehen, dann haben wir in den letzten Jahren einen Vorgeschmack bekommen: Hitzerekorde überall, Starkniederschläge, Dürre. Diese Ereignisse werden weit über das hinausgehen, was man in der Vergangenheit gesehen hat.
taz: Welches dieser Phänomene verursacht die größten Schäden?
Knutti: Das kommt darauf an, wie man die Schäden definiert. Wenn man die Todesfälle betrachtet, ist es eindeutig die Hitze. In der Schweiz sterben schon heute mehr Menschen an Hitze als im Straßenverkehr. Ökonomisch sind es vor allem die Naturkatastrophen – Hochwasser ist unheimlich teuer. Die Dürren wirken sich auf die Nahrungsmittelversorgung und auch auf die Preise aus. Langfristig kommt der Meeresspiegelanstieg hinzu – was wiederum zu noch mehr Migration und geopolitischen Spannungen führen wird.
taz: Ist der Klimawandel ein Problem der Städte oder trifft es vor allem den ländlichen Raum?
Knutti: Auch das ist unterschiedlich. Das Land hat Probleme mit der Trockenheit, die Berge mit Felsstürzen, Hochwasser und auftauendem Permafrost. Die Städte leiden vor allem unter der Hitze. Ich halte es aber für gefährlich, immer nur vor der Haustür zu schauen. Wir realisieren oft nicht, dass wir in Europa ökonomisch mehr vom Klimawandel im Ausland betroffen sind als vom Klimawandel innerhalb unserer Landesgrenzen. Die Schweiz ist nicht reich, weil sie Emmentaler herstellt, sondern weil sie ein globales Dienstleistungsland ist. Wenn es den Ländern um uns herum schlechter geht, spüren wir das.
taz: Könnte es auch sein, dass die Wissenschaft sich täuscht und die Folgen am Ende doch nicht so schlimm werden? Zum Beispiel, weil der Golfstrom versiegt und sich unsere Hemisphäre dadurch abkühlt…
Knutti: Natürlich sind Temperatur-Prognosen nie ganz exakt. Aber sie sind genau genug, dass man starke Veränderungen sieht. Bei Kipppunkten wie dem Golfstrom sind die Unsicherheiten wesentlich größer. Dass wir uns komplett irren und die Temperaturen plötzlich in die andere Richtung gehen? Diese Wahrscheinlichkeit geht gegen null. Die Frage ist eher, was diese Unsicherheit bedeutet. Ist sie ein Grund, nichts zu tun und abzuwarten? Aus einer Risikoperspektive wäre das der falsche Weg. Gerade wenn die Spannbreite der Risiken groß sind – und damit auch die potenziellen Schäden –, sollte man lieber vorsichtiger sein.
taz: Was aber leider nicht oft passiert. Nach der Flutkatastrophe im Ahrtal mit über 100 Toten und Milliardenschäden bauen viele Anwohner ihre Häuser an derselben Stelle wieder auf. Lernt die Menschheit nicht aus ihren Fehlern?
Knutti: Wir sind vor allem schlecht im Vorausschauen. Wenn man eine Versicherung abschließen soll für eine Katastrophe, die noch nie da war, werden das die meisten nicht machen. Wir vergessen und verdrängen auch sehr schnell. In Deutschland treten bei Naturkatastrophen immer wieder Politiker vor die Kameras und sagen: „Wer hätte das voraussehen können?“ Dabei haben wir es immer vorausgesagt! Die letzte Flut war sogar erst ein paar Jahre her. Es ist einfach politisch nicht attraktiv, Geld für etwas auszugeben, damit etwas nicht passiert.
taz: Gibt es trotzdem positive Beispiele von Städten oder Ländern, die solche vorausschauenden Klima-Anpassungen vornehmen?
Knutti: Mehr oder weniger, vor allem in Orten, in denen solche Ereignisse regelmäßig passieren. Die Schweiz gehört zu den positiveren Beispielen, genau wie der alpine Raum insgesamt. Dort ist die Häufigkeit von Felsstürzen, Lawinen und Hochwassern groß genug, dass die Leute meist vorausschauend denken. Sobald aber mal 20 oder 30 Jahre nichts passiert, ist es damit schnell wieder vorbei. Mir fällt kein Land ein, das den Klimaschutz konsequent in allen Bereichen umsetzt.
taz: In Interviews betonen Sie regelmäßig, dass Investitionen in den Klimaschutz langfristig sogar Geld sparen könnten. Wie meinen Sie das?
Knutti: Das ist sowohl bei der Anpassung als auch bei der Vermeidung der Fall. Beim Hochwasserschutz wissen wir, dass jeder investierte Euro mehr als einen Euro an Schäden einspart. Der verhinderte Schaden ist also größer als die Investition. Bei der Vermeidung verhält es sich ähnlich: Eine Tonne CO2 zu vermeiden, kostet weniger als die Schäden, die durch die Freisetzung entstehen würden. Und die sind hoch: Jede Tonne kostet zwischen 500 und 1000 Franken, wenn man alle entstehenden Schäden zusammenrechnet.
taz: Länder wie Frankreich setzen weiter auf Atomkraft, weil dadurch weniger Klimagase entstehen als bei der Kohleverbrennung. Wie stehen Sie als Klimaforscher dazu?
Knutti: Aus CO2-Sicht kann man die Atomkraft durchaus als klimafreundlich bezeichnen. Aber natürlich stellt sich die Frage, wie man mit dem Atommüll umgeht. Ich denke, dieses Problem ist lösbar. Nicht ganz so einfach sieht es mit dem Uran aus. Wo soll das alles herkommen? Am Ende ist die Atomkraft eine Übergangstechnologie. Sie ist relativ teuer, aufwändig, und es bleibt ein Restrisiko. In der Schweiz dauert es 20 bis 25 Jahre, bis ein neues Atomkraftwerk gebaut ist. Da sind die Alternativen wesentlich schneller, günstiger und ungefährlicher. Wind, Sonne und Geothermie kombiniert mit Wasserkraft und Batteriespeichern werden das Problem langfristig besser lösen. Wir haben kein Technologieproblem; die Lösungen liegen auf dem Tisch. Unser Problem ist, dass wir uns nicht einig sind, wie wir den Klimaschutz umsetzten, wo wir das tun und wer dafür bezahlt.
taz: Da gibt es natürlich das beliebte Gegenargument: „Warum sollen wir uns für den Klimaschutz abrackern, während China und die USA weiter Kohle verfeuern?“
Knutti: Die USA werden aus der Kohleverstromung aussteigen; sie ist heute schon massiv zurückgegangen. Auch das Argument mit China finde ich grotesk. Die deutschen Automobilhersteller haben heute schon Probleme, ihre Verbrenner dort zu verkaufen. China hat bei Photovoltaik und Batterien den Markt übernommen, und sie werden es auch bei Elektrofahrzeugen tun. Der Verbrennungsmotor hat keine Zukunft – nicht, weil man ihn verbieten müsste, sondern weil andere Technologien besser, angenehmer und günstiger sind.
taz: Was halten Sie von der Idee, CO2 mit technischen Mitteln aus der Atmosphäre zu entfernen?
Knutti: Ohne die CO2-Entfernung geht es nicht. Gar kein CO2 mehr auszustoßen, wird in bestimmten Industrien einfach nicht möglich sein, zum Beispiel bei der Kunststoffherstellung oder in der Luftfahrt. Deshalb muss man die Emissionen an einem anderen Ort wieder entfernen. Im Moment ist das noch teuer, aber die Technologie existiert. Wenn die politischen Mehrheiten da sind, um den CO2-Preis zu erhöhen, wird sich dafür auch ein Markt eröffnen.
taz: Was können Einzelpersonen für den Klimaschutz tun?
Knutti: Die größten Klimasünder sind Autos mit Verbrennungsmotor, Öl- und Gas-Heizungen, die Luftfahrt und die Ernährung. Das heißt: Besser ein kleines Fahrzeug nutzen, das mit Batterie fährt – oder ganz darauf verzichten. Weniger fliegen. Bei Gebäuden eine Wärmepumpe einbauen, am besten in Kombination mit Photovoltaik. Weniger Fleisch essen und überhaupt weniger konsumieren. Aber wir dürfen uns nicht blenden lassen: Ein so großes Problem wie die Klimakrise kann man nicht ohne den Staat lösen. Kein Individuum kann ein Bahnnetz bauen oder einen Radweg auf die Straße pinseln. Für funktionierenden Klimaschutz muss es einen verbindlichen politischen Rahmen geben, sei es ein Verbot, eine Subvention oder eine Steuer.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Ungerechtigkeit in Deutschland
Her mit dem schönen Leben!
Neuer Generalsekretär
Stures Weiter-so bei der FDP
Verkauf von E-Autos
Die Antriebswende braucht mehr Schwung
Zuschuss zum Führerschein?
Wenn Freiheit vier Räder braucht
Die HTS in Syrien
Vom Islamismus zur führenden Rebellengruppe
Warnstreiks bei VW
Der Vorstand ist schuld