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Foodwatch warnt vor MangelernährungMehr Hartz IV wegen Corona

Die SPD müsse für höhere Hartz-IV-Sätze kämpfen, um Mangelernährung zu verhindern, sagt Foodwatch. Viele Tafeln seien geschlossen, Preise gestiegen.

Derzeit häufig geschlossen: Lebensmittel werden 2018 in der Essener Tafel einsortiert Foto: Roland Weihrauch/dpa

Berlin taz | Die Verbraucherorganisation Foodwatch fordert von der SPD, sich für höhere Hartz-IV-Sätze starkzumachen, weil Nahrungsmittel infolge der Coronakrise teurer geworden sind. „Die Versorgung mit einer ausreichenden und ausgewogenen Ernährung ist aktuell für Millionen Menschen aufgrund der Coronakrise nicht gewährleistet“, schreibt der Verband an die Parteivorsitzenden Saskia Esken und Norbert Walter-Borjans in einem offenen Brief, der der taz vorab vorliegt.

Foodwatch verwies auf vier Gründe für eine drohende Mangelernährung: Für Kinder aus Familien mit geringem Einkommen entfalle derzeit ein kostenloses Mittagessen in Schule oder Kindergarten, da die Einrichtungen weitgehend dicht sind. Außerdem seien hunderte Tafeln geschlossen. „Die Lücken lassen sich für Betroffene nur mit erheblichen Mehrkosten füllen – ausgerechnet in einer Zeit, in der Jobverluste und Kurzarbeit viele Einkommen noch zusätzlich verringern“, erklärte die Organisation.

Erschwerend komme hinzu, dass die Preise für frische Lebensmittel in den letzten Wochen so stark gestiegen seien wie seit zwei Jahren nicht mehr. „Aufgrund der fehlenden Saisonarbeiter bzw. Erntehelfer war Gemüse, bekanntlich die Grundlage einer ausgewogenen Ernährung, im April 2020 ganze 27,1 Prozent teurer als im gleichen Zeitraum des Vorjahres“, so Foodwatch.

Insgesamt betrage der Preisanstieg für Frischwaren im Vergleich zum Vorjahresmonat 9,5 Prozent. Eine ausgewogene Ernährung mit reichlich frischem Obst und Gemüse sei aber gerade in Zeiten der Corona-Pandemie wichtig für die Stärkung des Immunsystems.

Trotz Versprechen keine Hilfen

„Einnahmequellen ‚auf der Straße‘ (durch Musik, Zeitungsverkauf und auch Bettelei) sind massiv eingeschränkt oder versiegt, die für Menschen ohne Leistungsanspruch gegenüber dem deutschen Staat (wie z.B. Menschen aus einigen osteuropäischen Ländern) die Existenzgrundlage darstellten.“

Foodwatch erinnerte daran, dass auch das Deutsche Kinderhilfswerk, die Tafeln, der Paritätische Gesamtverband schon in den vergangenen Wochen Soforthilfen gefordert hätten. Bundesarbeitsminister Hubertus Heil und Familienministerin Franziska Giffey (beide SPD) hätten daraufhin öffentlich Hilfen versprochen, Konkretes sei aber nicht passiert.

Die bisher bekannt gewordene Überlegung aus dem Bundesarbeitsministerium, zumindest das weggefallene kostenlose Mittagessen in Schulen und Kitas durch Zuschüsse für die Belieferung mit Caterern zu kompensieren, sei lebensfern und löse das Problem nicht, betonte Foodwatch. So werde die SPD ihren Aussagen „Das Wichtigste ist der Schutz der Gesundheit“ und „Es geht um Solidarität, für einander da sein“ nicht gerecht.

„Sofortprogramm gegen Ernährungsarmut“

„Wir fordern Sie daher auf, sich dafür einzusetzen, dass die Bundesregierung ein Sofortprogramm gegen Ernährungsarmut beschließt“, heißt es in dem Brief an Esken und Walter-Borjans. „Neben einer Aufstockung der Regelsätze ist hierzu aus unserer Sicht auch ein bundesweiter Koordinator für Ernährungssicherheit notwendig. Dieser müsste mit einem angemessenen Etat ausgestattet sein und dafür Sorge tragen, dass Akuthilfe gegen Hunger oder Mangelernährung koordiniert wird und dort ankommt, wo sie dringend benötigt wird.“

Esken antwortete in einer Stellungnahme für die taz: „Als eine der ersten Maßnahmen haben wir die Grundsicherung und andere Leistungen des Sozialstaats wie den Kinderzuschlag leichter zugänglich gemacht. Nun ist zu klären, ob vorübergehende Mehrbedarfe vonnöten sind und welche Maßnahmen wir mit dem Koalitionspartner CDU/CSU vereinbaren können, um vor allem Kinder in Notlagen in der aktuellen Lage besser zu unterstützen. Wenn wir unkompliziert und schnell helfen wollen, dann ist eine neue Behördenstruktur, wie sie foodwatch vorschlägt, eher nicht zielführend. Stattdessen müssen wir die bestehenden Strukturen stärken und den Sozialstaat so weiterentwickeln, dass er an der Seite der Menschen steht und sie in einer selbstbestimmten Lebensführung unterstützt, wie es das im Dezember beschlossene Sozialstaatskonzept der SPD darlegt.“

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8 Kommentare

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  • Vor einigen Wochen wurde ein Corona-Hilfspaket in Höhe von knapp 160 MILLIARDEN von der Bundesregierung beschlossen. Dieses Geld geht praktisch komplett an die Wirtschaft, für die Armen gab's nix. Und jetzt wurden auf EU-Ebene sogar 1,5 BILLIONEN "Sozialhilfe" für die Wirtschaft angekündigt, für die Armen gibt's wieder nichts.

    Das Einzige, was in diesem Land zählt ist die Wirtschaft, der Mensch und besonders die Schwächsten haben keine Relevanz.

    Liebe SPD, ich hoffe ihr wundert euch nicht, dass euch keiner mehr wählt. Falls doch, sage ich euch gerne warum.

  • „Aufgrund der fehlenden Saisonarbeiter bzw. Erntehelfer war Gemüse, bekanntlich die Grundlage einer ausgewogenen Ernährung, im April 2020 ganze 27,1 Prozent teurer als im gleichen Zeitraum des Vorjahres“, so Foodwatch."

    Saskia Esken, Norbert Walter-Borjans und Foodwatch verkennen den Ernst der Lage. Es geht weniger um Geld. Es geht vor allem um reale Mindermengen im Bereich Obst und Gemüse infolge fehlender Saisonarbeiter. Das grundlegende Problem kann nicht mit einem Geld behoben werden. Geld pflanzt nicht und Geld erntet nicht. Geld kann man nicht essen.

    Davor warnten bereits Frau Klöckner und die Bauernverbände ( taz.de/Erntehelfer...umaenien/!5675434/ ) Man war gegen ein kategorisches Einreiseverbot von Saisonarbeitern nicht nur weil dabei viel Geld den Bach runtergeht, sondern auch weil die Felder schlicht nicht bestellt oder abgeerntet werden können. Man warnte bereits vor Wochen, dass das Angebot an Obst und Gemüse schrumpfen würde. ( taz.de/Erste-Flueg...umaenien/!5675420/ )

    All das ging in der taz bei der merkwürdigen Fokussierung auf Spargel unter. In Artikeln zu Erntehelfern von Herrn Maurin hieß es noch schmissig, Erntehelfer würden "Für eine Handvoll Spargel" und die Ernte von Luxusgemüse kommen und "Das ist menschenverachtend". ( taz.de/Erntehelfer...umaenien/!5675434/ ) Da zitierte Herr Maurin noch Wissenschaftler, wonach "bis auf Eier und Ölsaaten wie Soja [...] der Selbstversorgungsgrad in Deutschland bei „durchweg deutlich über 100 Prozent“ liege". taz.de/Bauernprote...onakrise/!5674372/ obwohl auch da schon längst seit Jahren bekannt war, dass bei Obst und Gemüse der Selbstversorgungsgrad in Deutschland gerade mal bei etwa 30% liegt. www.ble.de/SharedD...rsorgungsgrad.html

    • @Rudolf Fissner:

      Und weiter gedacht, wird die pekuniäre Lösung von E&B zu einer extremst unsolidarischen Veranstaltung.



      Solche Ansätze laufen darauf hinaus Mangel an Obst und Gemüse durch Aufkäufen aus anderen Ländern auszugleichen. Die pekuniäre Lösung kann dazu führen, dass Leuten aus anderen Ländern das Gemüse und Obst weg futtert wird. Die Welthungerhilfe warn bereits davor, dass der „Coronavirus [die] Hungerkrise verschärfen“ wird. www.welthungerhilf...rise-verschaerfen/

  • Warum fängt der Sozialstaat wie er sich rühmt mit der Hilfe nicht unten an bei den Ärmsten. Jeder normal denkende Mensch weiß dass bei den sozial schwachen Menschen, Familien eine schnelle Hilfe von Nöten ist.

    • @J.D.:

      Ich würde meinen, der Staat ist nicht originär Sozialstaat. Der Staat existiert im Kapitalismus und gestaltet selbst die (kapitalistischen) Bedingungen. Gesundheit und Versorgung sind in diesem System nachrangig. Ziel ist der Erhalt der Eigenumsordnung und die Vermehrung von Profiten. Erst wenn bspw. mangelnde Gesundheit wie aktuell durch Covid-19 die Erreichung dieser Ziele gefährdet, werden schlaue (Macht)politiker*innen entsprechend an einigen politischen Stellschrauben drehen.

      • @Uranus:

        Das passt doch zum obigen Beitrag hinten und vorne nicht.

        Das würde bedeuten, dass der Mangel an Saisonarbeitern aufgrund von Corona-Beschränkungen wegen Profitgier hervorgerufen wurde.

  • Weshalb schreibt Foodwatch ausgerechnet an die SPD ? Die haben Hartz 4 doch überhaupt erst verbrochen. Außerdem sind die mit innerparteilichen Intrigen voll ausgelastet.



    Wer glaubt, daß ein Zitronenfalter Zitronen faltet, der glaubt auch, daß die SPD ein soziales Gewissen besitzt .

  • Gemüse 27% teurer als vor einem Jahr. Das ist schon ganz schön herb.