Flucht übers Mittelmeer: Seenotrettung kein „Pull-Faktor“
Eine Studie zeigt, dass Gewalt und Krisen, nicht Rettungsmissionen, zu mehr Bootsgeflüchteten führen. Sea-Eye fordert ein Ende der Abschottung.
Für die Studie untersuchten die Soziologin Alejandra Rodríguez Sánchez von der Universität Potsdam und ihre Kolleg*innen Ramona Rischke vom DeZIM-Institut, Julian Wucherpfennig von der Hertie School und Stefano Iacus von der Harvard University die Überfahrten von Nordafrika nach Italien zwischen 2011 und 2021. Ausgewertet wurden mögliche Zusammenhänge zwischen der Zahl der Flüchtenden, die sich auf die Seereise begaben, und zahlreichen anderen Faktoren, darunter etwa Wechselkurse, Preisentwicklungen, Arbeitslosenzahlen, militärische Konflikte, Gewalt, Luftverkehr, Wetter und die Intensität staatlicher und nichtstaatlicher Rettungsaktionen.
Ein Großteil dieser Faktoren spielte demnach tatsächlich eine Rolle dafür, wie viele Personen sich auf den Weg nach Italien machten. So gibt es etwa einen klaren Zusammenhang zwischen mehr Gewalt in Herkunftsländern und steigenden Zahlen von Personen, die die Überfahrt nach Italien wagen.
Seenotrettung hatte laut den Berechnungen der Forscher*innen dagegen keinen Einfluss darauf, wie viele Menschen sich auf den Weg machten. „Die Migrationszahlen wären ohne die Rettungsmissionen genauso hoch gewesen“, fasst Rodríguez Sánchez die Ergebnisse zusammen. Von einem „Pull-Faktor“, der mehr Menschen zur Überfahrt verleitet habe, könne keine Rede sein. Der Zusammenhang sei, wenn überhaupt, gegenteiliger Art: „Die Einsätze waren eine Reaktion auf die hohen Zahlen von Überfahrten.“
Menschenrechtsverletzungen in Libyen
Gorden Isler, der Vorsitzende der Seenotrettungsorganisation Sea-Eye, sagte der taz, die Ergebnisse der Studie zeigten erneut, dass die Erzählung vom Pull-Faktor nur dazu diene, Menschen zu desorientieren und zu desinformieren: „Es ist wichtig, dass diese Erkenntnisse zu den politischen Verantwortlichen durchdringen, so dass die Politik der Abschreckung und der Abschottung endlich ein Ende findet.“
Mit Verweis auf einen behaupteten Pull-Effekt wurde etwa 2014 die italienische Rettungsmission Mare Nostrum im Mittelmeer beendet. Seitdem gibt es mit der Frontex-geführten Mission Triton von staatlicher Seite nur noch Grenzschutzbemühungen. Private Seenotretter*innen werden von den EU-Staaten systematisch behindert und kriminalisiert.
Einer anderen Strategie der EU gibt die Studie indes indirekt recht – auf makabere Weise. Die Forscher*innen wiesen nach, dass EU-Unterstützung für die sogenannte libysche Küstenwache seit 2017 viele Migrant*innen davon abhielt, die Überfahrt nach Europa zu wagen. In der Praxis bedeutet das, dass libysche Milizen dafür bezahlt und ausgerüstet werden, die Flüchtlingsboote abzufangen und zurückzuschleppen. Dabei wenden die Milizionäre oft Gewalt an, den Geflüchteten droht Misshandlung, Folter und Mord.
Isler von Sea-Eye sagte der taz dazu: „Es ist ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit, dass staatliche Akteure zivile Rettungsschiffe seit Jahren systematisch behindern und mit bewaffneten, libyschen Milizen zusammenarbeiten, um Menschen daran zu hindern Libyen zu verlassen.“ Es brauche stattdessen, „die Einrichtung von sicheren Fluchtwege für alle schutzsuchenden Menschen und ein Ende der Zusammenarbeit zwischen den EU-Mitgliedsstaaten und der sogenannten Libyschen Küstenwache.“
Aktualisiert am 07.08.2023 um 12:10. d.R.
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