Flucht über das Mittelmeer: Unterlassene Hilfeleistung
Seit Beginn des Jahres sind 600 Menschen bei dem Versuch gestorben, das Mittelmeer zu überqueren. Die UN-Hilfsorganisation ruft zu Solidarität auf.
Die „unkontrollierte Einwanderung“ drohe zu „explodieren“, sagte der Senator der postfaschistischen Meloni-Partei Fratelli d’Italia, Paolo Marcheschi. Wer sich gegen die Maßnahmen der Regierung stelle, stelle sich „auf die Seite der Schleuser“.
Zu den Maßnahmen gehört unter anderem ein nochmals verschärftes Vorgehen gegen die Seenotretter. Schon im Februar hatte Melonis Regierung ein Dekret verabschiedet, das Rettungsschiffe unter anderem zwingt, nicht den nächsten sicheren Hafen etwa auf Sizilien anzulaufen – sondern den, den die Regierung ihr zuweist. Und die schickt vor allem die größeren Schiffe in weit im Norden liegende Hafenstädte: Um sie so gezielt aus dem Einsatzgebiet fernzuhalten, davon sind die NGOs überzeugt.
Bereits im Februar mussten etwa die Schiffe Geo Barents und Ocean Viking nach Rettungsaktionen vor Libyen bis nach Ancona in Norditalien fahren. Dort wurde die Geo Barents zwei Wochen festgehalten. Im März setzte Italien dann das private Rettungsschiff Louise Michel fest.
„Das neue Gesetz behindert die Rettungsbemühungen auf See und wird zu weiteren Todesfällen führen“, sagt ein Sprecher von Ärzte ohne Grenzen der taz. „Es reduziert die Rettungskapazitäten auf See und macht damit das zentrale Mittelmeer – eine der tödlichsten Migrationsrouten der Welt – noch gefährlicher.“
Den Schiffen unnötig weit entfernt liegende Häfen zuzuweisen, sei „zur gängigen Praxis“ geworden, sagt Wasil Schausel von der NGO SOS Humanity der taz. Die lange Navigation halte die Rettungsflotte aus dem Einsatzgebiet fern. Zudem müssten die Schiffe mit den Geretteten teils sehr lange Wege zurücklegen. „Je nach Lage und Gesundheitszustand an Bord sowie Wetter kann das sehr kritisch sein.“
Seit Beginn des Jahres sind 600 Menschen im Mittelmeer ertrunken, es ist der höchste Wert seit 2017. „Selbst uns, die seit fast acht Jahren zivile Seenotrettung im Mittelmeer betreiben, lassen die letzten Wochen fassungslos zurück“, heißt es in einer Erklärung der NGO Sea Watch.
Neben dem Fernhalten der privaten Retter ist für die gestiegene Zahl der Toten auch unmittelbar unterlassene Hilfeleistung verantwortlich. Darauf weist die UN-Migrationsorganisation IOM hin. Mindestens 127 Personen sind laut der IOM in diesem Jahr ertrunken, weil staatlich geleitete Rettungsaktionen verzögert wurden. „Das völlige Ausbleiben einer Reaktion (…) forderte das Leben von mindestens 73 Migranten.“ Die NGO-Einsätze seien „deutlich reduziert,“ so die IOM.
Die Lage im Mittelmeer sei „unerträglich“, sagte der Generaldirektor der IOM, António Vitorino. Er befürchte, dass sich die Todesfälle „normalisiert“ hätten. Dabei sei die Rettung von Menschenleben auf See eine „Verpflichtung für die Staaten“, so Vitorino. Statt Verschleppung brauche es „proaktive“ Such- und Rettungsmaßnahmen unter staatlicher Führung. „Im Geiste der geteilten Verantwortung und der Solidarität rufen wir die Staaten auf, zusammenzuarbeiten.“
Manfred weber, Chef der EVP-Fraktion im Europaparlament
Doch genau daran fehlt es: an geteilter Verantwortung. Italiens Regierung hat den Notstand ausgerufen und wartet darauf, dass die EU „strukturell eingreift“, wie es bei der Regierungspartei Fratelli d’Italia heißt.
Der Chef der Europäischen Volkspartei, Manfred Weber, der seit Kurzem auffällige Signale der Annäherung an die rechtsextreme Giorgia Meloni sendet, rief unterdessen die EU-Staaten zu stärkerer Solidarität mit Italien auf: „Wir stehen vor einer weiteren großen Migrationskrise in Europa. Deshalb unterstützt die EVP die italienische Regierung voll und ganz dabei, diesem Thema auf europäischer Ebene Priorität einzuräumen.“
Eigentlich hatten die anderen EU-Staaten – einmal mehr – versprochen, Italien tatsächlich unter die Arme zu greifen. Seit Langem stocken alle Bemühungen um einen festen Verteilmechanismus, vor allem weil die Staaten Osteuropas und Österreich dagegen sind. Ersatzweise hatte eine Gruppe von Staaten einen freiwilligen Verteilmechanismus beschlossen: Vom Sommer 2022 bis Sommer 2023 sollten darüber insgesamt 12.000 Menschen aus den Außengrenzen-Staaten für ein Asylverfahren in andere EU-Staaten ausreisen dürfen, davon 8.000 aus Italien – ein Tropfen auf den heißen Stein. Deutschland sagte zu, ein Viertel dieses Kontingents aufzunehmen.
Eine dem aktuellen Solidaritätsmechanismus vergleichbare Regelung – das so genannte Malta-Protokoll – hatte Ex-Bundesinnenminister Horst Seehofer 2018 ausgehandelt. Die Ampel hatte sich im Koalitionsvertrag vorgenommen, dies „weiterzuentwickeln“.
Doch damals wie heute kommt Deutschland seinen Aufnahmezusagen praktisch nicht nach: Bis Ende März 2023 sind nach Angaben des Bundesinnenministeriums über den aktuellen Solidaritätsmechanismus 520 Menschen nach Deutschland gekommen, davon 427 aus Italien und 93 aus Zypern. Und bis zum Ende der angekündigten Laufzeit sind es nur noch zwei Monate.
„In Italien kommen momentan täglich Hunderte Schutzsuchende an. Die in Aussicht gestellte Übernahme von 8.000 Menschen durch andere Mitgliedstaaten war deshalb von Anfang an absolut unzureichend“, sagt die Linken-Abgeordnete Clara Bünger. EVP-Chef Weber schlug indes einen Migrationspakt mit Tunesien vor. Man könne sich an dem Türkei-Abkommen von 2016 orientieren, sagte er. Tunesien allerdings ist daran nicht interessiert.
Tunesien ist indes auf der Migrationsroute immer wichtiger geworden. Während 2022 noch ein gutes Drittel der in Italien Angekommenen über Tunesien gereist waren, sind es in diesem Jahr über die Hälfte. Das Land hatte lange irreguläre Bootsabfahrten verhindert, war von dieser Praxis aber zuletzt immer weiter abgerückt. Zurückgegangen ist allerdings der Anteil der Tunesier:innen unter den Ankommenden: Sie machten 2022 noch jede:n Fünfte:n aus, in diesem Jahr sind es bisher nur rund 8 Prozent.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Hoffnung und Klimakrise
Was wir meinen, wenn wir Hoffnung sagen
+++ Nachrichten im Ukraine-Krieg +++
Slowakischer Regierungschef bei Putin im Kreml
Rechte Gewalt in Görlitz
Mutmaßliche Neonazis greifen linke Aktivist*innen an
Spiegel-Kolumnist über Zukunft
„Langfristig ist doch alles super“
Lohneinbußen für Volkswagen-Manager
Der Witz des VW-Vorstands
Abschiebung erstmal verhindert
Pflegeheim muss doch nicht schließen