piwik no script img

Fischsterben in der OderIntransparenz und Verharmlosung

Zu spät und zu spärlich klärte die Regierung in Warschau über die Verseuchung der Oder auf. Für das deutsch-polnische Verhältnis ist das verheerend.

Warschau hat sich mit wichtigen Informationen zurückgehalten Foto: Patrick Pleul/dpa

E s war schwer zu widerstehen. Als der Berlin–Warschau-Express auf die Eisenbahnbrücke rollte, die Deutschland mit Polen verbindet, klebten die Fahrgäste ihre Nasen an die Fenster. Alle suchten das schöne Oderufer sorgfältig mit den Augen ab und hielten Ausschau nach toten Fischen. Es war der 12. August, und die Wissenschaftler überschlugen sich mit Vermutungen, was diesen großen polnischen Fluss vergiftet haben könnte. Bis heute ist das Rätsel der ökologischen Tragödie nicht vollständig gelöst.

Karolina Wigura

ist Leiterin des Observatoriums der Öffentlichen Debatte der Stiftung „Kultura Liberalna“ und Kodirektorin des Programms „Knowledge Bridges“ am Institut für Soziologie der Universität Warschau.

Seit zwei Wochen hatten die polnischen Medien an diesem Tag bereits darüber berichtet. Zunehmend wurde darauf hingewiesen, dass wir es höchstwahrscheinlich mit einer großen, von Menschen verursachten Katastrophe zu tun haben. Die Regierung von Mateusz Morawiecki in Warschau hatte sich jedoch zunächst kaum geäußert. Unser deutscher Nachbar erfuhr erst 24 Stunden vor der Überfahrt unseres Zugs von der Nachricht von der „Giftwelle an der Oder“.

Die Quelle des Flusses liegt in der Tschechischen Republik, südlich von Breslau, und erst dann wendet sich die Oder nach Norden. Sowohl die polnischen als auch die deutschen Grenzgebiete hätten sich also darauf vorbereiten können, sie hätten die Giftwelle eindämmen können, aber Warschau beschloss zu schweigen. Heute ist die Oder an einigen Stellen praktisch tot. Dutzende von Tonnen toter Fische und anderer Wassertiere wurden aus dem Wasser gefischt.

Eine eilige Entsorgung wurde vorgenommen, doch die bittere Wahrheit ist, dass an manchen Stellen nichts mehr von der einstigen Artenvielfalt des Flusses übrig ist. In dieser dramatischen Angelegenheit spiegelt sich – wie in der Oberfläche eines Flusses – die aktuelle Politik wider. Erstens geht es um die Praxis der deutsch-polnischen Nachbarschaft. Theoretisch ist alles darüber gesagt, und praktisch sind alle möglichen Schritte unternommen worden.

Dynamik des Populismus

Von der im Schweiße des Angesichts aufgebauten deutsch-polnischen Aussöhnung nach dem Zweiten Weltkrieg bis hin zu den letzten Jahren, in denen die Regierung in Warschau eine dezente antideutsche Propaganda verbreitete. Jetzt aber hat die Nachbarschaft nicht so funktioniert, wie sie sollte. Mit der Zurückhaltung wichtiger Informationen hat Warschau so getan, als ob der westliche Nachbar einfach nicht existierte.

Zweitens geht es um die Dynamik des Populismus. In der ausgezeichneten Serie „Tschernobyl“ (2019) unter der Regie von Johan Renck sehen wir gleich nach der Explosion im berühmten Reaktor IV die gegensätzlichen Ziele der Figuren in diesem Drama. Auf der einen Seite gibt es Menschen, die versuchen, die Wahrheit über die Katastrophe herauszufinden. Auf der anderen Seite stehen die Behörden, die verhindern wollen, dass Informationen über das Ausmaß der Explosion bekannt werden.

Jaroslaw Kuisz

ist Chefredakteur der Wochenzeitschrift „Kultura Liberalna“ und tätig am Institut für Recht und Verwaltung der Universität Warschau. Zudem ist er Kodirektor des Programms „Knowledge Bridges“ an der Universität Oxford.

Die Oder ist nicht Tschernobyl, Polen ist nicht die UdSSR, und 2022 ist nicht 1986. Trotzdem muss man sagen, dass der politische Mechanismus an alte Handlungsmuster erinnert. Hier wird, so lange es geht, eine Atmosphäre der Intransparenz und der Verharmlosung der möglichen Bedrohung aufrechterhalten.

Und wenn es darum geht, etwas zu sagen, wird die Katastrophe genutzt, um die Polarisierung und den Parteienstreit zu vertiefen, und das zu einem Zeitpunkt, zu dem vernünftige und gut geplante internationale Maßnahmen am nötigsten wären. Es kann überall zu einer Umweltkatastrophe kommen – unter jedem Regime. Die entscheidende Frage ist jedoch, was unternommen wird, um den Schaden zu begrenzen und die Ursache zu finden.

Nun bleibt einzig die Hoffnung, dass wir alle bald wieder die schönen, bewaldeten Oderufer aus den Fenstern des Berlin–Warschau-Express genießen können.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen

Mehr zum Thema

3 Kommentare

 / 
  • Sehr guter Artikel! Nur der letzte berlinwarszawasnobistische Absatz macht alles kaputt.

    • @rostrotrostrock:

      ... nicht alles macht der "letzte berlinwarszawasnobistische Absatz kaputt", weil gesagt ist gesagt! -



      Aber er versucht, in die Kurve zu einer Heilen Welt abzubiegen, die es längst nicht mehr gibt. Uns erwartet nur noch Grauen!

  • Erinnert frappierend an die Kommunitation nach dem Tschernobylunfall.



    Da wusste auch niemand was das los war. Besonders nicht in Moskau ... Bis bei den Schweden die Zeiger ausschlugen ...