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Filmfestival San SebastiánEine Hebamme auf der Flucht

Die 71. Ausgabe des Filmfestivals San Sebastián war das Jahr der Frauen. Der Hauptpreis ging an „O Corno“ von Regisseurin Jaione Camborda.

„O Corno“: Maria (Janet Novás) hilft Frauen bei Schwangerschaftsabbrüchen Foto: Festival de San Sebastián 2023

A Illa de Arousa ist eine Insel in einer tief ins Landesinnere vordringenden Meeresbucht Galiziens im Nordwesten Spaniens. Anfang der 1970er Jahre ist das Leben geprägt von Fischerei und Landwirtschaft, weit abgelegen vom Festland, das noch nicht wie heute durch eine Brücke verbunden ist.

Um wegzukommen, braucht Maria ein Boot. Sie ist die Hebamme des ­Dorfes, unterstützt mit stoischer Geduld Frauen, ihre Babys zu Hause zur Welt zu bringen, einen Arzt gibt es nicht. Zugleich hilft sie diskret bei ungewollten Schwangerschaften, ist die letzte Rettung in einer Zeit, in der Abtreibungen im vom Franco-Regime und der katholischen Kirche dominierten Spanien verboten und gesellschaftliches Tabu sind.

Als sich eine verzweifelte Schülerin an sie wendet, zögert sie zunächst, ihr den Trunk zu brauen, mit dem der riskante Abbruch eingeleitet wird. Wenig später stirbt das Mädchen an den Komplikationen des Eingriffs und Maria gerät unter Verdacht. Sie muss sich ins benachbarte Portugal absetzen und findet auf ihrem Weg immer wieder Hilfe anderer Frauen am Rande der Gesellschaft, einer Tavernenbesitzerin etwa oder einer afrikanischen Prostituierten.

In eindringlichen, ruhigen Bildern erzählt die Regisseurin Jaione Camborda in ihrem zweiten Spielfilm „O Corno“ von dieser Frau, die zur Flucht gezwungen ist, um ihr Leben und ihre Freiheit zu retten. Damit wurde die 40-jährige Baskin am Samstagabend auf dem Filmfest in San Sebastián bei der Preisgala mit der Goldenen Muschel ausgezeichnet.

Vitalität des Gegenwartskinos

Camborda, die in Prag und München Film studiert hat, ist die erste spanische Regisseurin in der Festivalgeschichte, die den Hauptpreis des internationalen Wettbewerbs erhält. Ihr tief in der galizischen Landschaft und Kultur verwurzeltes Drama ist ein erneuter Beweis für die Vitalität des spanischen Gegenwartskinos.

Und das sorgt vor allem durch junge Regisseurinnen und ihren sehr persönlichen, regional verorteten Filmen international für Aufsehen. Wie Carla Simóns „Alcarràs“ über eine Familie von Obstplantagenbauern in Katalonien, der 2022 auf der Berlinale mit dem Goldenen Bären ausgezeichnet wurde.

Die 71. Ausgabe von San Sebastián war das Jahr der Frauen. Der Preis der Jury unter Vorsitz der französischen Filmemacherin Claire Denis ging an das intensive Drama „Kalak“ der schwedischen Regisseurin Isabella Eklöf, das um einen Mann kreist, der in seiner Jugend vom Vater missbraucht wurde. Mit seiner Frau und dem kleinen Sohn ist er in ein abgelegenes Dorf in Grönland gezogen, wo er sich in Affären mit anderen Frauen flüchtet, um sich dem eigenen Trauma nicht zu stellen.

Für die beste Regie wurden die beiden Taiwanesinnen Tzu-Hui Peng und Ping-Wen Wang ausgezeichnet, die in ihrem auf 16 mm gedrehten Spielfilm „Journey in Spring“ von einem alten Mann erzählen, der sich jahrelang auf seine Ehefrau verlassen hat und deren plötzlichen Tod zu verdrängen versucht. Ihr Langfilmdebüt ist ein intimes ­Familiendrama, das subtil Geschlechter­rollen in Taiwans Gesellschaft verhandelt.

Ein Forum für den Täter

Und Isabel Coixet verfilmt mit „Un amor“ den Bestsellerroman „Eine Liebe“ der spanischen Schriftstellerin Sara Mesa als Porträt einer jungen Übersetzerin, die in einem Dorf im Nirgendwo einen Neuanfang versucht und sich in eine obsessive Affäre mit einem Handwerker stürzt. Hovik Keuchkerian verkörpert diesen Einsiedler als brütenden Koloss, der jederzeit auszubrechen droht, und wurde dafür zu Recht als bester Nebendarsteller geehrt.

Wie bei der Berlinale werden die Schauspielpreise inzwischen genderneutral vergeben. In diesem Jahr gingen sie allesamt an Männer. Für die beste Leistung in einer Hauptrolle wurden ex aequo Tatsuya Fuji als dementer Vater in dem fragmentarisch inszenierten Wettbewerbsbeitrag „Great Absence“ des Japaners Kei Chikaura, sowie an Marcelo Subiotto als neurotischer Professor in der argentinischen ­Universitätskomödie „Puan“ ausgezeichnet.

Das Regiepaar María Alché und Benjamín Nayshat erhielten für die vielschichtig-humorvolle Auseinandersetzung um akademische Strukturen, männliche Eitelkeit und die gesellschaftspolitischen Probleme des Landes außerdem den Drehbuchpreis.

Für eine Kontroverse sorgte der Dokumentarfilm „No me llame Ternera“ von Jordi Évole und Màrius Sánchez. Darin wird Josu Urrutikoetxea, besser bekannt unter seinem Aliasnamen Josu Ternera, einer der führenden Köpfe der inzwischen aufgelösten baskischen Terrororganisation ETA, deren Attentaten im Laufe eines halben Jahrhunderts etwa 830 Menschen zum Opfer fielen, über seine Verantwortung befragt.

Dass einem Täter ein solches Forum geboten wird, kritisierten im Vorfeld Überlebende und Angehörige zu Recht, doch das Interview erweist sich bei aller Medienversiertheit Terneras als Selbstdemontage, bei der er sich als politischer Hardliner mit wenig Reue inszeniert und immer wieder in Widersprüchen verheddert. Dabei gesteht er, am tödlichen Attentat 1972 auf einen Bürgermeister beteiligt gewesen zu sein, bei dem der Polizist und Leibwächter Francisco Ruiz Sánchez schwer verletzt wurde und danach von der Bevölkerung so angefeindet wurde, dass er das Baskenland verlassen musste. Mit ihm beginnt und endet der Film, ihm gilt das letzte Wort.

Bei der Premiere des Films im Kursaal herrschte nach dem Abspann zunächst bedrücktes Schweigen, bevor die Filmemacher unangekündigt den Überlebenden begrüßten und die Menschen im Saal aufstanden und ihm in einer ergreifenden Geste stehend applaudierten. Eine späte Genugtuung, die Ruiz Sánchez nutzte, um mit gebrochener Stimme an Hunderte ETA-Morde zu erinnern, die nach wie vor unaufgeklärt sind.

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