Fernweh in Coronakrise: Es nagt und ruft
Der Wunsch auf Reisen zu gehen, kann in diesen Coronazeiten unerträglich werden. Was tun, wenn das Innere unaufhörlich schreit: Ich muss gehen.
E s gibt eine gute Stelle in einem Piratenroman von John Steinbeck (ja, er hat wirklich mal einen geschrieben: „Eine Handvoll Gold“), wo der zukünftige Freibeuter Henry Morgan im tristen Wales davon träumt, in die Karibik zu segeln. Ein ehemaliger Knecht der Familie ist gerade von dort zurückgekehrt, reich, elend und krank, und sagt doch: „Ich muss zurück an den verdammten Ort.“ Und Henry weiß, dass er auch dorthin gehen muss. „Denn es scheint, als wäre mein Körper in zwei Hälften geschnitten und nur eine davon hier. Der andere Teil ist jenseits des Meeres und ruft und ruft mich, zu kommen und ein Ganzes zu werden.“
Kaum eine Zeile beschreibt so gut das Reisen, wenn man es ernst damit meint. Das Gefühl, nicht bleiben zu können, weil ein Teil der Seele in der Welt lebt. Das Gehirn oder Herz oder was auch immer ist drüben, im Gebirge und an Stränden, in Dörfern und an tiefblauen Seen, in der Wüste und unterm Sternenhimmel, bei fremden Sprachen und Menschen, in dreckigen Städten und traurigen Käffern. In der Welt. Die Reise ist kein Urlaub, sondern etwas Existenzielles.
Es nagt und ruft, irgendwann schreit es. Ich muss gehen, um ganz zu werden. Das ist ein Satz, den Menschen, die ihr Leben an einem Ort verbracht haben oder im Alltag vor sich hin leben, nie verstehen. Und diese Sehnsucht ist hart in einer Pandemie.
Ich bin derzeit seit Monaten in Köln, der Stadt, wo ich aufgewachsen bin und nie wieder Monate verbringen wollte. Der ausgebaute Lkw, in den wir Anfang des Jahres gezogen sind, braucht Reparaturen, für die jeweils unterschiedliche Werkstätten nötig sind. Es zieht sich also. Wir haben den Sommer notgedrungen coronamäßig in Frankreich verbracht; es waren schöne Monate, aber nicht die ganz große Magie des Fremden, das Gewitter an Erkenntnissen, Gefühlen, Reizen einer völlig neuen Welt. Eher eine pragmatische Wahl, Frankreich war eben gerade offen und versank nicht in Infektionen.
Und doch, es war ein Schluck von neuem Leben, eine Aussicht, die ruft und sich nun entzieht. Ich warte, wieder fahren zu können, mit jedem Tag ungeduldiger.
Ich weiß nicht, wie die Leute das machen, die hier Alltag leben. Es ist wie bei dem Knecht bei John Steinbeck, dem das alte Dorf grau erscheint, der dort friert. Wer einmal die Freiheit gespürt hat, kann nicht bleiben.
Früher mochte ich dieses schicksalhafte Pathos an der Geschichte. Natürlich sind wir auch schlicht von Reiz überflutet. Wer ständig erlebt, muss diese Erlebnisse wiederholen und steigern, eine immer neue Dosis von was auch immer. Abstinent sein kann nur, wer nie wirklich gekostet hat. Vielleicht ist es aber auch einfach Schicksal, das Reisende gegriffen hat. Als ich schreiben konnte, habe ich in ein erstes Poesiealbum als Zukunftswunsch geschrieben: „Durch die Welt ziehen“. Ich habe Listen von Ländern verfasst, in die ich gehen würde, voll Aufregung und voll Angst, es würde nie passieren; es war eine Sehnsucht, die pochte, ein Teil des Körpers, der ja wohl schon da drüben gewesen sein musste, schon immer.
Bei John Steinbeck gibt es gewiss am Ende eine dröge Moral, die sinngemäß lautet: Gib acht, was du dir wünschst. Henry Morgan hat alles gesehen und erlebt, wurde nie zufrieden und ist seelisch im Eimer. Aber das stimmt meistens nicht. Das kann nur glauben, wer nicht wirklich gereist ist.
Noch eine Sache, natürlich, stimmt nicht. Bevor Henry abreist, sagt er: „Ich komme zurück, wenn ich wieder ganz bin.“ Das glaubt er doch wohl selbst nicht. Denn der Teil des Körpers in der Welt wird immer dort bleiben.
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