Fernkältenetz in Schweden: Erfrischung aus 68 Metern Tiefe
Wenn die Sommer immer heißer werden, sind kühle Räume gefragt. Kommunale Fernkältenetze können eine gute Lösung sein. Schweden ist da schon weit.
Bereit seit 2017 hat Mölndal ein Fernkältenetz, nun soll es erweitert werden. Dafür müssen neue Produktionsanlagen entstehen. „Die Nachfrage unserer Kunden nach Kälte steigt stetig an“, sagt Christian Schwartz, Chef von Mölndal Energi.
Fernwärme – das ist nachvollziehbar. Aber besteht wirklich auch ein Bedarf an Fernkälte? Und das im vermeintlich so kühlen Norden? Offenbar ja. Denn tatsächlich gehört Schweden neben Frankreich zu den europäischen Ländern, die eine führende Rolle im Bereich Fernkälte spielen. Immer mehr Verantwortliche in den Städten hier denken Fernwärme und Fernkälte direkt zusammen. Der Ausbau eines Fernkältenetzes gehört deshalb mittlerweile zum festen Bestandteil vieler kommunaler Klimapläne. Insbesondere bei sommerlichen Temperaturen müssen Bürogebäude, Einkaufszentren, Krankenhäuser und Industrien gekühlt werden. Und dabei ist Fernkälte eine Alternative zu stromfressenden lokalen Kühl- und Klimaanlagen.
Fernkälte funktioniert nach dem gleichen Prinzip wie Fernwärme: Wasser wird über unterirdische Leitungen zu den einzelnen Grundstücken transportiert. Aber statt heißem Wasser zum Aufwärmen ist es kaltes Wasser zur Kühlung. In den angeschlossenen Gebäuden überführen Wärmetauscher die Kälte des Wassers in das geschlossene Kühlsystem des Gebäudes. Produziert man Kälte im großen Maßstab zentral anstatt in vielen kleinen Anlagen, ist das energieeffizienter und damit sowohl ökologisch als auch ökonomisch vorteilhafter – so wie auch bei der zentralen Wärmeproduktion.
536 Kilometer Kälte
Anfang der 1990er Jahre hat der Energieversorger in der Stadt Västerås das erste schwedische Fernkältenetz in Betrieb genommen. Nun bieten Unternehmen in mehr als 40 Kommunen Fernkälte an. Größere Netze gibt es vor allem in Göteborg, Lund, Uppsala und Linköping. Zusammengerechnet belief sich die Länge dieser Netze im vergangenen Jahr auf 536 Kilometer.
Das Netz in Stockholm ist mit rund 250 Kilometern das längste städtische Fernkältenetz Europas. Bislang sind daran vorwiegend kommerzielle Gebäude und Industrieunternehmen angeschlossen. Laut der Umweltbehörde besteht aber ein stetig steigender Bedarf, neben Krankenhäusern auch andere öffentliche Einrichtungen wie Altenheime oder Kindergärten und Schulen mit Kälte zu versorgen. Denn in der schwedischen Hauptstadt ist die mittlere Temperatur seit 1990 um 1,1 Grad gestiegen, die jährlichen Hitzewellen werden länger.
Die regelmäßig aktualisierte Wärmekarte der Stadt zeigt eine stetige Zunahme der „Hitzeinseln“. Derzeit gibt es etwa 180 mehr als ein Hektar große Gebiete, in denen Höchsttemperaturen von über 35 Grad gemessen werden. Dort wohnen 18 Prozent der StockholmerInnen. 70 Prozent leben in Zonen, in denen die maximalen Temperaturen auch schon zwischen 32 und 34 Grad liegen.
Gerade Neubauten seien sehr gut isoliert und wiesen eine hohe Energieeffizienz auf, sagt Jan Akander, Lektor für Energiesysteme und Bauphysik an der Hochschule Gävle: „Das ist natürlich gut. Aber in einem wärmeren Klima wird es zu einer Gratwanderung, weil ein gut gedämmtes Haus Kälte weder herein- noch herauslässt, wie das bei älteren Gebäuden der Fall ist.“ Untersuchungen, die sein Hochschulteam im Auftrag der schwedischen Energiebehörde angestellt hat, kamen zum Ergebnis, dass der künftige Kühlbedarf von Wohnungen bis 2050 vermutlich um das Sechsfache ansteigen wird.
Mal so, mal besser so
Für Einfamilienhäuser seien elektrisch betriebene Kühl- und Klimaanlagen die optimale Lösung. Vor allem, wenn dafür der Strom aus Solarzellen zur Verfügung stünde, „denn die erzeugen am meisten Energie, wenn der Kühlbedarf am höchsten ist“, sagt Akander.
Für Mehrfamilienhäuser und kommerzielle Gebäude sei dagegen Fernkälte am effektivsten und könne auch dazu beitragen, das Stromnetz zu entlasten, weil keine individuellen Anlagen mehr eingesetzt werden müssten. Für neue Stadtviertel solle man von vornherein planen, zusammen mit Fernwärmeleitungen auch solche für Fernkälte zu verlegen.
Vor zehn Jahren habe man den Aufbau eines Fernkältenetzes schon einmal durchgerechnet, aber wie in manchen anderen Städten die Pläne dann als unwirtschaftlich beiseitegelegt, berichtete Henrik Näsström vom kommunalen Energieversorger der westschwedischen Hafenstadt Varberg in der Fachzeitschrift Tidningen Energi. Aufgrund der wärmeren Sommer sei diese Kalkulation nun – und auch das ähnlich wie in anderen Städten – bereits wieder überholt. Man habe die Entscheidung revidiert und arbeite jetzt an einem Netz, das man im Sommer 2026 in Betrieb nehmen wolle.
In Varberg hat man sogar eine Kältequelle direkt vor der Haustür: In die Produktionsanlage wird eiskaltes Meerwasser aus der Tiefe des Kattegat gepumpt, das dann das Wasser im Fernkältenetz kühlt. Das machen auch viele andere am Meer oder an großen Binnenseen gelegene Städte so. In Jönköping holt man das kühle Nass beispielsweise aus 68 Meter Tiefe aus dem Vätternsee. „Freikühlung“ nennt sich das. Mit Absorptionskälte muss hier nur kühlend nachgeholfen werden, soweit die Temperatur des Meer- oder Seewassers über 6 Grad liegt.
Ansonsten wird Fernkälte in Schweden überwiegend mit Absorptionskälte produziert – dem Prinzip, nach dem beispielsweise Campingkühlschränke oder Minibars in Hotels funktionieren: Dabei wird die in der Wärme enthaltene Energie in Kälte umgewandelt. Auf diese Weise kann für die Fernkälte überschüssige Wärme aus der Fernwärmeproduktion, dem Abwasser oder der Abwärme aus der Industrie genutzt werden. Für die Kälte muss so nicht extra Wärme produziert werden, was die Klimagasemissionen niedrig hält. Die andere Technik: Kompressorkälte wie beim Haushaltskühlschrank.
Fernkälte sei ein wichtiger Baustein im Energiesystem schwedischer Städte geworden, ist die Bilanz einer im Frühjahr veröffentlichten Studie mit dem Titel „30 år av fjärrkyla i Sverige“. Die AutorInnen konstatierten, dass die gestiegenen Strompreise die Nachfrage nach dem Anschluss sowohl an Fernwärme- wie an Fernkältenetze so massiv erhöht hätten, dass die Energieversorger Probleme haben, damit Schritt zu halten. Und sie fragen auch, ob Schweden Inspirationsquelle für andere Länder sein könne, „denn der weltweite Kältebedarf ist hoch und dürfte die kommenden Jahre stark ansteigen“. Ihre eigene Antwort: Schweden könne für Länder mit ähnlichen geografischen und klimatischen Bedingungen ein Vorbild sein.
In der Studie weisen sie aber auch darauf hin, dass es Besonderheiten gibt, die nicht so leicht übertragbar sind – etwa die lange schwedische Tradition der Fernwärmeversorgung und die Möglichkeit, in großen Teilen der Kühlsaison auf Freikühlung zurückgreifen zu können. Denn das sei es vor allem, was die Kosten senke und sich in der Klimabilanz positiv auswirke.
„Entscheide dich für Fernkälte“, wirbt das Energieunternehmen der Stadt Karlstad derzeit um neue Kunden für seine „natürliche Kälte aus dem Vänernsee“. Ihr Argument: So könne der sonst für die Kühlung benötigte Strom für etwas verwendet werden, wo er nicht ersetzbar ist.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Anschlag auf Magdeburger Weihnachtsmarkt
Vieles deutet auf radikal-islamfeindlichen Hintergrund hin
Exklusiv: RAF-Verdächtiger Garweg
Meldung aus dem Untergrund
Keine Konsequenzen für Rechtsbruch
Vor dem Gesetz sind Vermieter gleicher
Anschlag in Magdeburg
„Eine Schockstarre, die bis jetzt anhält“
Russische Männer auf TikTok
Bloß nicht zum Vorbild nehmen
Wirbel um KI von Apple
BBC kritisiert „Apple Intelligence“