Ferien auf dem Ponyhof: Das größte Glück der Erde
Als Kind und Jugendliche hat unsere Autorin ihre Sommer am liebsten auf dem Ponyhof verbracht. Heute versucht sie, diese Faszination zu verstehen.
D ie Fahrt aus der Hamburger Innenstadt dauert nur etwas mehr als eine Stunde und doch fühlt man sich wie in einer anderen Welt, wenn man aus dem Auto steigt und die letzten Meter zu Fuß zurücklegt. Etwas versteckt hinter Bäumen liegt das Hofhaus, gegenüber davon eine große alte Scheune. Es ist zwar noch früh am Morgen, aber der Arbeitstag auf dem Ponyhof Reuter in Schleswig-Holstein ist schon in vollem Gange. Eine Gruppe Mädchen ist eifrig damit beschäftigt, Pferde zu striegeln und zum Reiten bereit zu machen. Haflinger, Norweger und Mischlinge ergeben einen bunten Mix aus kleinen und großen Ponys, die zwar nicht unbedingt olympiatauglich sind, aber dafür sehr lieb aussehen.
Dieser Ort ist besonders für mich, denn ich besuche durch ihn einen Teil meiner Vergangenheit. Zehn Jahre lang bin ich jeden Sommer auf den Ponyhof gefahren. Erst als Ferienkind, später als Betreuerin – die klassische Pferdemädchenkarriere also. Schon nach meiner ersten Woche Reiterferien, da war ich sieben Jahre alt, wusste ich: Hier will ich es zu etwas bringen. Als ich es mit 15 endlich geschafft hatte, mir als Helferin eine ganze kostenlose Woche auf dem Ponyhof zu verdienen und dazu sogar noch 100 Euro bar auf die Hand bekam, platzte ich beinahe vor Stolz.
Jetzt bin ich 22 und meine letzten Reiterferien liegen ein paar Jahre zurück. Ich möchte wissen: Was war so besonders an meiner Zeit auf dem Ponyhof, dass ich mir bis in mein 18. Lebensjahr nichts Schöneres vorstellen konnte, als Sommer um Sommer zweimal täglich ein Pferd zu striegeln, Sattel zu schleppen, Küchenarbeit zu verrichten und in einem klapprigen Stockbett zu übernachten? Und: Was davon ist geblieben?
Familienbetrieb seit 1963
Der Ponyhof Reuter, den ich dafür besuche, ist nicht derjenige, der mich beim Aufwachsen begleitet hat. Mit dem Auto sind die Höfe aber nicht einmal 20 Minuten voneinander entfernt, beide liegen zwischen Neumünster und Rendsburg in Schleswig-Holstein.
Stefanie Tietgen-Reuter ist seit Juli die offizielle Chefin auf dem Hof, auf dem sie schon ihre Kindheit verbrachte. Sie hat das Zepter von ihrem Vater Uwe in die Hand gedrückt bekommen, der wiederum die Arbeit seiner Mutter Karin Reuter fortführte. Als diese schon 1963 die Idee hatte, Reiterferien für Kinder anzubieten, war sie damit eine der ersten in Schleswig-Holstein – erst in den 1980ern wurde das Modell Ponyhof dann richtig groß.
In den Hochzeiten, das war in den frühen 90er-Jahren, kamen in den Sommerferien pro Woche bis zu 60 Kinder auf den Hof. Sie schliefen damals unterm Dach der großen alten Scheune, direkt über dem Pferdestall. „Die Ansprüche sind seitdem definitiv gestiegen“, sagt Stefanie Tietgen-Reuter und lacht. Heute besuchen pro Ferienwoche nur noch maximal 18 Kinder den Hof.
Dafür gilt auf dem Ponyhof Reuter die Regel: Nur Mädchen im Alter von 8 bis 18 Jahren dürfen hier Urlaub machen. „Bei den Jungen ist die Nachfrage einfach zu gering und wir können ihnen kein Einzelzimmer anbieten, wenn doch mal einer Interesse hat. Einmal im Jahr machen wir ein Wochenende für eine Handvoll, die sich das Jahr über ansammeln, weil sie keinen Platz in den regulären Ferien bekommen“, sagt Stefanie Tietgen-Reuter.
Reiten gilt als Mädchensache
Das geringe Interesse der Jungen rührt wohl daher, dass Reiten in unserer Gesellschaft als eine typische Mädchensache gilt. „Immenhof“, „Bibi und Tina“ oder „Ostwind“ haben das reitende Mädchen zu einem popkulturellen Phänomen gemacht, welches seit vielen Jahrzehnten Massen an jungen Frauen ungebrochen in seinen Bann zieht. Die Deutsche Reiterliche Vereinigung zählte im vergangenen Jahr 186.081 weibliche Mitglieder unter 18 Jahren. Auf sie kommen nur 16.622 männliche Mitglieder in derselben Altersgruppe, also gerade einmal 8,2 Prozent.
Dieses Verhältnis dreht sich um, wenn man auf den Turniersport blickt: Das deutsche Reitteam bei den diesjährigen Olympischen Spielen bestand aus 13 Männern und nur neun Frauen. Und in der Geschichte des Deutschen Spring-Derbys, das seit 1920 beinahe jährlich in Hamburg ausgetragen wird, haben nur fünf Frauen gewonnen, denen 88 männliche Sieger gegenüberstehen.
Die Mädchen auf dem Ponyhof Reuter scheint die Abwesenheit der Jungen nicht zu stören. Es ist inzwischen Mittagspause und wir sitzen in einem Sechsbettzimmer gemeinsam auf dem Boden. Meine Gesprächspartnerinnen sind zwischen 12 und 14 Jahre alt. „Ich habe noch gar nicht darüber nachgedacht, dass hier ja gar keine Jungs sind. Ist mir auch eigentlich egal“, meint Victoria. „Ich finde es besser ohne Jungs“, wendet ihre Freundin Svea ein. „So muss ich nicht ständig darauf aufpassen, nicht geärgert zu werden.“ Nicken in der Runde. „Wollt ihr mal ein Pferdeleckerli probieren?“, fragt Helena. Ich rieche nur vorsichtig an einem, aber traue mich nicht reinzubeißen.
Während die anderen Mädchen vergnügt an Leckerlis knabbern, überlege ich selbst, was mich früher so am Reiten begeisterte. Es fing wohl auch bei mir damit an, dass ich als Kind mit Pferdebüchern, -filmen und -hörspielen überschüttet wurde und diese dankbar aufsog.
Ponyhof in der Popkultur
Die Geschichten liefen oft ähnlich ab: Das wohl beliebteste Motiv der Pferdeliteratur ist das des schwierigen, traumatisierten Pferdes, welches schließlich durch die Fürsorge eines jungen Mädchens gerettet wird. In der Bestsellerreihe „Ostwind“ gelingt es der Protagonistin Mika, eine Beziehung zu dem wilden und gefährlichen Hengst Ostwind aufzubauen und diesen zu zähmen.
Die dreizehnteilige Romanreihe „Pferdeflüsterer-Academy“ spielt in einem Internat, in dem die „weltbesten Reiter ausgebildet und verletzte Pferdeseelen geheilt“ werden. Und schon in „Black Beauty“, dem ersten großen Pferderoman aus dem Jahr 1877, schilderte eine weibliche Autorin aus der Perspektive eines Hengstes, welche Qualen dieser im Laufe seines Lebens erleiden muss.
Diese Geschichten vermitteln den Mädchen, die sie lesen, dass es ihre Bestimmung sei, ein anderes Lebewesen vollkommen verstehen, versorgen und durch ihre Hingabe und Fürsorge verändern zu können. Pferde sind eine großartige Projektionsfläche für diesen Wunsch, denn sie können sich nicht gegen ihre liebeswütigen Reiterinnen wehren und müssen ihnen letztlich gehorchen – womit die Grenzen zwischen liebevoller Strenge und Unterdrückung fließend verlaufen.
Nach der Mittagspause wird es gleich ein zweites Mal zum Reiten gehen. In den ersten Tagen auf dem Hof bekommen die Mädchen noch in kleinen Gruppen Unterricht auf dem Platz, ab der Mitte der Woche gibt es dann Ausritte ins Gelände. Auf meinem Hof früher gab es in den ersten Jahren gar keinen richtigen Reitplatz, weshalb wir von Anfang an ausgeritten sind. Da ich als Siebenjährige praktisch nicht reiten konnte, wurde ich auf die Stute Desy gesetzt, die das älteste Pony auf dem Hof war und mich mit stoischer Ruhe durch Wald und Wiesen trug. Das wäre heute aus Sicherheitsgründen nicht mehr so möglich, sagt Stefanie Tietgen-Reuter, und erzählt mir von besorgten Eltern, die die Ferien ihrer Kinder mittlerweile per Airtag oder Smartwatch live mitverfolgen.
Zwischen den Reiteinheiten organisieren die Betreuerinnen ein Freizeitprogramm für die Kinder, während Tietgen-Reuter Frühstück, Mittag und Abendbrot vorbereitet. An besonders heißen Tagen gibt es Ausflüge ins Freibad und wenn es mal regnet Filmvorstellungen mit – natürlich – „Ostwind“ oder „Bibi und Tina“. Die Mädchen, die schon Handys haben, dürfen diese nur mittags und abends nach dem Reiten nutzen, den Rest der Zeit werden sie von den Betreuerinnen verwahrt.
Hartes Geschäft
Der ganze Spaß kostet glatte 500 Euro. Dieser Preis liegt ungefähr im schleswig-holsteinischen Durchschnitt, wobei andere Höfe meist deutlich mehr Kinder aufnehmen. „Wir machen das hier nicht profitorientiert. Der Hof trägt sich gerade so selbst“, erklärt Stefanie Tietgen-Reuter. Trotzdem mussten die Reuters ihre Preise in den letzten Jahren deutlich anheben, um sich halten zu können. 2016, als die Gründerin Karin Reuter starb und das Geschäft ihrem Sohn und dessen Töchtern hinterließ, kostete eine Woche Reiterferien hier noch 325 Euro. Die Coronapandemie und die inflationären Futterkosten brachten den Hof in wirtschaftliche Bedrängnis. Jetzt wurden auch noch Teile der Soforthilfen zurückgefordert, die ihn während der Pandemie über die Runden brachten. Wenn Tietgen-Reuter über die wirtschaftliche Lage ihres Hofes spricht, wird klar: Das Leben auf dem Ponyhof ist kein Ponyhof, sondern ein hartes Geschäft.
Besonders in großen Städten, wo es für viele Menschen unbezahlbar ist, Reitstunden zu nehmen oder gar ein eigenes Pferd zu halten, gilt Reiten dagegen als elitärer Luxus. „Diese Seite des Sports gibt es durchaus. Aber Ponyhöfe sind im Grunde das komplette Gegenmodell dazu“, sagt Tietgen-Reuter. „Wir haben keine sportlichen Ambitionen, sondern wollen guten Reitunterricht für Pferd und Kind möglichst zugänglich machen. Es kommen hier auch viele Kinder hin, die gar keine Reitkleidung haben und erst mal von mir ausgestattet werden müssen.“
Auch ich habe den Ponyhof früher als einen sehr inklusiven Ort erlebt. Und mich dort mit Mädchen angefreundet, die ganz andere Perspektiven mitbrachten als ich selbst: Als Großstädterin spielte ich mit Kindern vom Land, die mir von Schulbussen und Dorffesten erzählten. In der Grundschule und Unterstufe teilte ich mir mein Zimmer mit älteren Mädchen, die abends Geschichten übers Rauchen, Sex und andere aufregende Dinge aus ihrem Leben preisgaben. Und da der Hof mit Einrichtungen der Jugendhilfe kooperierte, lernte ich auch Kinder kennen, die eine weniger privilegierte Lebensrealität als ich hatten.
Eine Woche, in der alles andere egal ist
Das Schöne daran war: Trotz aller Unterschiede waren wir in dieser einen Woche im Jahr irgendwie gleich – viel gleicher, als ich es aus meiner Schule in Hamburg kannte, wo ständig beurteilt wurde: Wer trägt coole Markenkleidung, wer wohnt in einem tollen Haus und wer fährt im Winter in den Skiurlaub? Auf dem Ponyhof spielte das alles keine Rolle: Wir hatten den ganzen Tag Reitsachen an und niemand wusste, wo die anderen wohnten oder sonst Urlaub machten. Soziale Hierarchien gab es nur insofern, als das wir auf unsere Betreuerinnen hören mussten und Respekt vor denjenigen hatten, die gut mit den Pferden umgehen konnten.
Auch auf dem Ponyhof Reuter sind Mädchen aus verschiedenen Altersklassen und Regionen dabei. Da ist die achtjährige Jana aus Kiel, die so klein ist, dass sie ihr Pferd nicht alleine satteln kann. Die vierzehnjährige Helene aus einem Dorf in der Nähe, die schon in der letzten Woche als Ferienkind auf dem Hof war und unbedingt bleiben wollte, weshalb Reuter ihr noch eine kostenlose Woche als Helferin ermöglichte. Und die zwölfjährige Ida aus Schafflund bei Flensburg, die in der Mittagspause Pflaster auf ihre Hände klebt, weil die vom Harken des Reitplatzes mit Blasen übersäht sind.
Was mir heute bei allen Unterschieden dennoch auffällt: Es ist eine sehr weiße Gruppe, die hier Ferien macht. „Das stimmt und ist tatsächlich nicht nur in dieser Woche so“, bestätigt Stefanie Tietgen-Reuter meinen Eindruck. „Eigentlich schade. Vielleicht sind Ponyhöfe einfach ein sehr deutsches Konzept.“
Safe Space im Patriarchat?
Auch, dass Ponyhöfe geschlechtlich betrachtet eine so binäre Angelegenheit sind, sehe ich heute mit gemischten Gefühlen. Einerseits sind sie damit einer der wenigen Orte in unserer Gesellschaft, an denen junge Mädchen fast völlig unter sich sein können, mit ihrer Begeisterung für ein gemeinsames Hobby ernst genommen werden und durch die Verantwortung für ihr Pferd und auf dem Hof echte Selbstwirksamkeit erfahren. Auf Neudeutsch könnte man sagen: Ponyhöfe sind empowernde Safe Spaces.
Gleichzeitig sind sie aber Teil eines Systems, in dem Reiten als typische Mädchensache gilt – inklusive aller Nachteile und Abwertungen, die damit in einer patriarchalen Gesellschaft einhergehen. Das zeigt sich schon an dem Wort „Pferdemädchen“. Es ist einerseits eine Selbstbezeichnung, die ich an meinem Tag auf dem Ponyhof Reuter oft höre. „Ich bin ein absolutes Pferdemädchen. Mein Freund weiß ganz genau, dass das Pferd bei mir immer vorgeht“, erzählt mir etwa die 21-jährige Betreuerin Annalena, die schon seit mehr als 15 Jahren reitet.
Ihr Selbstbewusstsein imponiert mir, denn ich habe mich früher immer gegen das Image des Pferdemädchens gewehrt. Ich hatte Angst vor der Abwertung, die dem Begriff gerade aus dem Mund von Männern beiwohnen kann: Das reitende Mädchen wird dabei völlig auf ihr Hobby reduziert, ihre Begeisterung für Pferde als albern und nervig abgetan.
Dreckige Realität
In der Realität ist der Reitsport eine ziemlich dreckige, anstrengende und gefährliche Angelegenheit. Jedes Jahr ereignen sich in Deutschland zwischen 30.000 und 90.000 Unfälle im Zusammenhang mit Pferden. Laut der Gesellschaft für orthopädisch-traumatologische Sportmedizin beträgt die Inzidenz tödlicher Reitunfälle einen auf 10.000 Reiter pro Jahr. Unter Frauen ist Reiten damit die mit Abstand tödlichste Sportart. Und im Internet finden sich haufenweise Berichte von Kindern, die im Umgang mit Pferden tödlich verunglückt sind.
Angst beim Reiten hatte ich früher trotzdem nie. Heute ist das anders: Als Stefanie Reuter mich fragt, ob ich es mal wieder versuchen will, winke ich ab und murmele etwas von unpassender Kleidung.
„Ich habe vor Pferden mehr Respekt als vor Menschen“, sagt mir auch die neunjährige Marlene, nachdem ihr Pony Little-Ann ihr gerade auf den Fuß getreten ist. „Aber sie sind auch toller. Man muss einfach immer wieder aufsteigen.“ Ich schaue Marlene dabei zu, wie sie das Putzzeug für Little-Ann humpelnd wegbringt, und fasse einen Vorsatz: Ich will mich auch wieder trauen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Exklusiv: RAF-Verdächtiger Garweg
Meldung aus dem Untergrund
Anschlag in Magdeburg
Auto rast in eine Menschenmenge auf dem Weihnachtsmarkt
Anschlag auf Magdeburger Weihnachtsmarkt
Vieles deutet auf radikal-islamfeindlichen Hintergrund hin
Fragestunde mit Wladimir Putin
Ein Krieg aus Langeweile?
Einigung über die Zukunft von VW
Die Sozialpartnerschaft ist vorerst gerettet
Streit um Russland in der AfD
Chrupalla hat Ärger wegen Anti-Nato-Aussagen