Experten-Experte über Experten: „Spezialwissen übersetzen“
In unübersichtlichen Zeiten vertrauen wir gern auf Experten. Nur: Wie wird man überhaupt einer? Wir haben beim Historiker Caspar Hirschi nachgefragt.
taz am wochenende: Herr Hirschi, Sie sind Experte für Experten. Was macht jemanden zum Experten?
Caspar Hirschi: Fachkompetenz und Unabhängigkeit. Außerdem sind Experten Antwortgeber.
Was ist der Unterschied zwischen einer Spezialistin und einer Expertin?
Jede Expertin muss Spezialistin sein, aber nicht jede Spezialistin ist Expertin. Expertin wird man erst, wenn man von Laien gebeten wird, sein Spezialwissen zur Verfügung zu stellen. Experten übersetzen Spezialwissen für Nichtspezialisten.
Wie wird die Unabhängigkeit und Kompetenz eines Experten gewährleistet?
Das hängt davon ab, wo Experten auftreten. Historisch wegweisend war das Gericht. Gerichte waren angewiesen auf Sachverständige, um prozessrelevantes Wissen zu erhalten. Als expertus galt, wer praktische Erfahrung in einem Beruf gesammelt hatte, sei es als Hebamme oder als Dachdecker. Wurde etwa ein Passant von einem herunterfallenden Ziegel erschlagen, ließ das Gericht einen Dachdecker-Experten klären, ob die Ziegel sachgemäß fixiert waren. Um 1700 jedoch kam die Kritik auf, eine praktische Berufstätigkeit verhindere die Unabhängigkeit von Experten.
Warum?
Nehmen wir an, der Dachdecker-Experte entdeckte, dass ein Zunftgenosse gepfuscht hatte. Stand er dann nicht unter Druck, den Schuldigen vor Gericht zu decken, um die Ehre des eigenen Berufsstands zu schützen? Diese Kritik kam aus den Reihen von Aufsteigern, die für sich selbst mehr Kompetenz und Unabhängigkeit beanspruchten: von wissenschaftlichen Spezialisten in staatlichem Sold. Allmählich galten akademische Fachtitel als wichtigster Ausweis von Experten.
Ist das heute anders?
Nicht wesentlich. Wenn von Wissenschaftlern erwartet wird, dass sie mit ihrer Forschung in die Praxis gehen, stehen sie nicht viel besser da als die Handwerker-Experten der Vormoderne. Kommt hinzu, dass Unabhängigkeit und Kompetenz nicht überall so geprüft werden wie im Gericht. In der Politik ist der Übergang vom Experten zum Lobbyisten und Propagandisten fließend. Noch stärker ist der Wildwuchs in den Medien, wo man sich einen Experten zimmert, wenn man keinen findet.
Zum Beispiel?
Es gibt einschlägige Fälle von Fake-Experten im amerikanischen und russischen Fernsehen. Bei uns tummeln sich mittlerweile auch Firmen, die Experten an Medien vermitteln und dabei nicht klären, was sie wissen. Ich wurde kürzlich von einer Vermittlungsfirma eingeladen, als Experte zum Versailler Frieden und zur Reichspogromnacht Auskunft zu geben, obwohl ich dazu nichts an Forschung vorzuweisen habe.
Von Caspar Hirschi stammt das Buch: „Expertenskandale, Skandalexperten. Zur Geschichte eines Gegenwartsproblems“, Verlag Matthes & Seitz, Berlin 2018, 398 Seiten, 28 Euro.
In Ihrem Buch „Skandalexperten. Expertenskandale“ warten Sie mit der These auf, dass die Medien mitschuldig daran sind, dass wir nicht im prognostizierten Zeitalter des Wissens, sondern dem der Fake News gelandet sind.
Massenmedien haben bei zwei Skandalen, die ich in dem Buch untersuche, eine Skandalisierungsstrategie gefahren, auf Kosten der Aufklärung: beim Sturz des englischen Drogenexperten David Nutt und der Verurteilung italienischer Seismologen nach dem Erdbeben von L’Aquila. Die Medien wollten den Konflikt um die Experten auf die Spitze treiben, um maximale Aufmerksamkeit zu erzielen. Dabei half ihnen natürlich, dass Experten in den Medien allgegenwärtig sind.
Entwerten die inflationären Auftritte von Experten ihre Rolle?
Die Inflation ist zuerst ein Zeichen der Überbewertung. Viele glauben, es brauche zwingend Experten, um einer Aussage Glaubwürdigkeit zu geben. Damit wird der Expertenauftritt zu einem Privilegierungsritual für Wissenschaftler. Aber auch zu einem Einfallstor für Populisten und Verschwörungstheoretiker, die darin den faulen Zauber einer Expertokratie sehen. Sie stürzen sich dann auf Falschaussagen von Experten.
Wenn Experten über Dinge reden, von denen sie keine Ahnung haben, machen sie sich aber auch schnell unglaubwürdig.
Ja, aber häufig sind sie dafür nicht allein verantwortlich. Experten befinden sich oft in der Situation, Fragen zu Dingen gestellt zu bekommen, über die sie kein gesichertes Wissen haben. Die Obsession für Prognosen hat diese Situation chronisch gemacht. Hat ein Experte keine Antwort, enttäuscht er. Experten, die strikt innerhalb der Grenzen ihres Wissens bleiben, sind für Medien uninteressant. Es kann ihnen passieren, dass vage Prognosen nachträglich als Gewissheiten präsentiert werden und sie selbst, wenn die Prognose nicht eintrifft, als falsche Propheten dastehen.
Also sind letztlich doch die Medien schuld?
Dieser Text stammt aus der taz am wochenende. Immer ab Samstag am Kiosk, im eKiosk oder gleich im praktischen Wochenendabo. Und bei Facebook und Twitter.
Nur teilweise. Für Experten wird es stets heikel, wenn Fragesteller im Vornherein festlegen, was sie hören wollen. Das Problem betrifft nicht nur die Medien. Es ist in der Politik noch gravierender.
Sie spielen auf die Expertenkommissionen im Bundestag an?
Nicht nur, aber tatsächlich hat die Regierung Merkel Expertenkommissionen eingesetzt, um heiklen Entscheidungen nachträglich den Anschein eines Sachzwangs zu geben. Beim Atomausstieg nach der Reaktorkatastrophe von Fukushima war es so. Der Entscheid war rein politisch motiviert, hatte die Regierung doch kurz zuvor den Ausstieg vom Ausstieg verkündet, und ein Tsunami-Szenario für Deutschland war völlig unrealistisch. Dennoch wurden gleich zwei Expertengremien eingesetzt, um den Entscheid nachträglich als wissenschaftliche Notwendigkeit hinzustellen. Eine gewisse Tragik liegt darin, dass Merkels Politik der Alternativlosigkeit gerade dann nicht mehr glaubwürdig wirkte, als mit den Flüchtlingen an der Grenze eine alternativlose Situation bestand.
Ist das nur Merkels Tragik?
Nein. In jüngerer Zeit haben Regierungen wiederholt Experten vorgeschickt, um für sie Überzeugungsarbeit zu leisten. Die noch größere Tragik ist, dass es meist wissenschaftsfreundliche Regierungen waren, die zu spät gemerkt haben, dass sie Populisten geradezu einluden, die Unabhängigkeit der Wissenschaft in Zweifel zu ziehen. Als Obama für das Atomabkommen mit dem Iran warb, hat er ein ganzes Expertenaufgebot eingesetzt, sodass es Trump später ein Leichtes war, das Abkommen als Machwerk „schrecklicher“ Experten abzuschießen. Damit verhinderte Trump seinerseits, dass sich Iran-Spezialisten als unabhängige Autoritäten in die Debatte einmischten, konnte er sie doch als Obama-Lakaien hinstellen.
Die Einmischung von Wissenschaftlern in gesellschaftliche Debatten hat nachgelassen, oder?
Ich teile diese Einschätzung. Das hat politische und wissenschaftliche Gründe. Mit dem Ausbau von Expertengremien in der Politik wurde die Expertenrolle in der Wissenschaft massiv aufgewertet. Heute wird jeder gewichtige Entscheid durch Expertengutachten abgestützt, die meisten anonymisiert. Dringt vom wissenschaftlichen Ringen um Wahrheit kaum etwas nach außen, erscheint die Forschung als Blackbox. Als solche kann ihr nur blind vertraut oder misstraut werden.
Kommt der Vorwurf, Experten seien mit der politischen Elite verbandelt, eher von rechts?
Er ist in den letzten fünfzig Jahren von links nach rechts gewandert. Viele Achtundsechziger lehnten Experten leidenschaftlich ab und konnten sich dabei auf Kapazitäten wie Herbert Marcuse berufen. Experten galten als Erfüllungsgehilfen der kapitalistischen Technokratie, die man bekämpfen musste. Heutige Rechtspopulisten bedienen sich aus der Mottenkiste der linken Expertenkritik. Der Unterschied: Sie greifen Experten an, um die Unabhängigkeit der Wissenschaft zu schwächen. Den Linken ging es darum, die Unabhängigkeit der Wissenschaft zu stärken.
Warum finden Sie den Begriff „Expertokratie“ trotzdem falsch?
Weil er die Machtverhältnisse im politischen Spiel auf den Kopf stellt. Es ist nicht die Wissenschaft, die sich die Politik dienstbar macht, sondern umgekehrt. Die Eurokrise hat es gezeigt: Die technokratischen Regime in Italien und Griechenland waren Notfallübungen, die abgebrochen wurden, sobald die Luft für Politiker rein war. Die zentrale Rolle der EZB hatte damit zu tun, dass die gewählten Regierungen – an erster Stelle die deutsche – ihren politischen Spielraum nicht nutzen wollte, weil das Risiko unpopulärer Maßnahmen zu groß erschien. Wenn politische Eliten aus Angst vor den eigenen Wählern heiße Kartoffeln den Experten zuwerfen, hat nicht nur die Wissenschaft den Schaden: Auch die Demokratie leidet.
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