Experte über das Sozialschutzpaket II: „Eine herbe Enttäuschung“
Die Bundesregierung will den sozialen Schutzschirm ausweiten. Doch um einen Coronazuschlag drücke sie sich, so der Sozialwissenschaftler Stefan Sell.
taz: Am Donnerstag ist das Sozialschutzpaket II im Bundestag verabschiedet worden. Wie bewerten Sie es?
Stefan Sell: Wenn man es als Nachbesserung des ersten Pakets versteht, dann ist das Ganze gerade für eine Gruppe eine herbe Enttäuschung: für arme Menschen. Für die „Bestandskunden“ der Grundsicherung, also Hartz-IV-Bezieher, verweigert man die erforderliche Weiterentwicklung. Denn im Sozialschutzpaket II ist kein Coronazuschlag von mindestens 100 Euro für Hartz-IV-Empfänger vorgesehen. Dabei haben genau das viele gefordert – vom DGB, Sozialverbänden bis zu Grünen und Linken.
Das Arbeitsministerium sagt, ein Zuschlag sei unnötig, weil es über das Jahr hinweg immer Schwankungen bei den Verbraucherpreisen gebe. Das Ganze würde sich ausgleichen.
Stefan Sell, 55, ist Direktor des Instituts für Sozialpolitik und Arbeitsmarktforschung der Hochschule Koblenz. Er bloggt unter stefan-sell.de zu sozialpolitischen Themen.
Das ist eine wirklich perfide Aussage. Eigentlich räumt man damit ein, dass man das Problem erkannt hat, nämlich dass gerade die Produkte für arme Menschen teurer werden. Zwar suggeriert die niedrige allgemeine Inflation, dass alles in Ordnung sei. Das hängt aber nur mit dem niedrigen Ölpreis zusammen. Und der hat für Hartz-IV-Beziehende kaum Bedeutung.
Die Preise für Lebensmittel und nichtalkoholische Produkte sind dagegen allein von März auf April um rund 5 Prozent gestiegen. Grundsicherungsbeziehende werden darauf vertröstet, dass es in einigen Monaten vielleicht wieder günstiger wird. Aber der Regelsatz ist so knapp bemessen, dass sie schlichtweg keine Rücklagen haben.
Gäbe es weitere Gründe für einen Coronazuschlag oder gar für die dauerhafte Anhebung des Regelsatzes?
Ja, auch angesichts der Rezession wäre eine Anhebung oder zumindest ein temporärer Zuschlag sinnvoll. Im Gegensatz zu Steuersenkungen hätte man hier wirklich einen einfachen Hebel, den inländischen Konsum zu steigern. Der Regelsatz wäre auch nach einer Erhöhung noch in einer Dimension, dass Hartz-IV-Beziehende jeden zusätzlichen Euro für den Konsum aufbrauchen würden.
Für Kinder aus armen Familien wurde ein kostenloser Lieferdienst für Mittagessen beschlossen. Ist das nicht eine Verbesserung?
Das Ausgangsproblem ist, dass die bisherigen kostenlosen Mittagessen in Schulen und Kitas weggefallen sind. Nun sollen die Caterer „nur“ noch für die armen Kinder und Jugendlichen kochen und diese auch noch individuell beliefern. Das wird sich leider als eine große Luftbuchung erweisen. Viele Kinder werden schlichtweg ausgeschlossen und werden durch den Rost fallen.
Warum wird den Familien das Geld denn nicht einfach direkt ausgezahlt?
Man will auf Biegen und Brechen verhindern, das Geld an die Familien auszuzahlen. Hier ist es wieder, das alte, weitgehend widerlegte Vorurteil, die Eltern würden das Geld nicht in ihre Kinder, sondern in Alkohol oder einen neuen Fernseher investieren.
Nur um den Aufwand deutlich zu machen, den man an dieser Stelle betreibt: Die vorgesehene Obergrenze von 5 Euro pro Schulessen wurde im Gesetzgebungsverfahren durch eine Änderung aufgehoben, um das Ganze überhaupt für die Caterer praktikabel zu machen. Dazu kommen noch Lieferkosten. Allein wenn man das Essen wie bisher mit 5 Euro pro Mahlzeit berechnen würde, kommt man auf 100 Euro pro Kind im Monat. Die Grünen haben einen pauschalen Aufschlag von 60 Euro pro Kind gefordert. Das fände ich deutlich sinnvoller – und das ist schon ein Kompromissangebot an die Regierenden.
Warum passiert für die Menschen mit dem wenigsten Geld so wenig?
Die neuen Maßnahmen zeigen, dass man nichts wirklich verändern will. Für die Menschen, die neu in Hartz IV kommen, hat die Bundesregierung eine Absenkung der Zugangshürden beschlossen. Die Wohnkosten werden vollständig übernommen, auch die Vermögensprüfung ist ausgesetzt. Das Problem ist, dass das nur für die Neufälle gilt und auch nur befristet. Aber der Regelsatz wird nicht angepasst. Damit zementiert man nun eine Zweiklassengesellschaft in der Grundsicherung. Es wirkt, als hoffe man, das Ganze aussitzen zu können, bis die Krise wieder vorbei ist. Um dann zurück zum Status quo zu kommen.
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