Experte über Kinderrechte: „Mit Kindern wird Pingpong gespielt“
Heinz Hilgers, Präsident des Kinderschutzbundes, kämpft seit langem für Kinderrechte im Grundgesetz. Die sollen nun kommen, aber er ist unzufrieden.
taz: Herr Hilgers, Sie fordern seit Jahrzehnten, Kinderrechte im Grundgesetz zu verankern. Nun haben sich Union und SPD darauf verständigt, genau das zu tun. Sind Sie am Ziel?
Heinz Hilgers: Nein. Der Vorschlag ist nicht gut, das ist reine Symbolpolitik.
72, SPD-Politiker und seit 1993 Präsident des Deutschen Kinderschutzbundes. Von 1985 bis 1994 war Hilgers Abgeordneter des Landtags in Nordrhein-Westfalen und von 1989 bis 1999 sowie von 2004 bis 2009 Bürgermeister der Stadt Dormagen.
Warum?
Das sind keine echten Kinderrechte. Es beginnt schon beim ersten Satz der Einigung, der Artikel 6 in der Verfassung ergänzen soll: „Die verfassungsmäßigen Rechte der Kinder einschließlich ihres Rechts auf Entwicklung zu eigenverantwortlichen Persönlichkeiten sind zu achten und zu schützen.“ Diese Rechte der Kinder ergeben sich bereits aus Artikel 2 des Grundgesetzes: „Jeder hat das Recht auf die freie Entfaltung seiner Persönlichkeit, soweit er nicht die Rechte anderer verletzt und nicht gegen die verfassungsmäßige Ordnung oder das Sittengesetz verstößt.“
Das, was beschlossen worden ist, gilt längst?
Ja. Darüber hinaus soll, so steht es jedenfalls in dem Entwurf, das Kindeswohl künftig nur noch angemessen berücksichtigt werden. Es muss aber umfassend berücksichtigt werden.
Können Sie das an einem Beispiel erklären?
Als ich 1979 Jugendamtsleiter im Erftkreis wurde, war es sehr schwierig, Kinder bei Auseinandersetzungen in der Familie Inobhutnahme zu nehmen.
Also ein Kind, wenn es misshandelt und missbraucht wurde, aus der Familie zu nehmen.
Damals wurden Kinder nur bei Gefahr für Leib und Leben, wie es damals genannt wurde, aus der Familie genommen.
Misshandlung und Missbrauch sind eine große Gefahr für Leib und Leben.
In jedem Fall. Deshalb ist das heute auch eine feste Größe, wenn es um Kindeswohlgefährdung geht.
Wie definiert man heute Kindeswohlgefährdung?
Wenn elementare Bedürfnisse eines Kindes dauerhaft nicht erfüllt sind, es sich physisch, seelisch und emotional nicht frei entwickeln kann.
Und was heißt hier dauerhaft?
Wenn ein Kind zwar nicht täglich, aber doch regelmäßig vernachlässigt oder misshandelt wird oder auf andere Weise in seiner Entwicklung behindert ist, ist das Kindeswohl in Gefahr. Die Bandbreite ist sehr groß, sie reicht vom sogenannten Klaps bis hin zu heftiger Gewalt. Wenn so etwas bekannt wird, müssen Behörden reagieren.
Wie?
Der Person, in den meisten Fällen ist das der Vater, muss Hilfe angeboten werden.
Das Kind soll nicht aus der Familie genommen werden?
Zuallererst sollten die Eltern Hilfe bekommen. Ich halte nichts davon, Kinder zu schnell aus der Familie zu nehmen, Kinder sind in der Regel in der Familie am besten aufgehoben. Aber sie haben das Recht auf eine gewaltfreie Entwicklung. Und wenn – bleiben wir bei dem Beispiel – der Vater Hilfe ablehnt oder bei einer Therapie nicht mitmacht, sollte darüber nachgedacht werden, ihm das Aufenthaltsbestimmungs- oder das Sorgerecht für das Kind abzuerkennen. Zumindest temporär.
Es gibt aber nicht ausreichend Hilfsangebote, vor allem nicht für gewalttätige Männer.
Es gibt Kommunen, die sind komplett kaputtgespart, dort fehlt es an allem, insbesondere an Angeboten der Kinder- und Jugendhilfe. Es gibt aber auch Kommunen, die eine gut funktionierende Präventionskette haben, angefangen bei frühen Hilfen in der Schwangerschaft über Angebote der Jugend- und Gesundheitsämter bis hin zur Polizei und den Jobcentern.
Was haben die Jobcenter damit zu tun?
Wenn eine schwierige Familie auf dem Weg der Stabilisierung ist, kann es kontraproduktiv sein, beispielsweise Zuwendungen zu kürzen oder bestimmte Maßnahmen durchdrücken zu wollen. Wissen Sie, was dabei am dramatischsten ist?
Was?
Städte, die die größten sozialen Probleme haben, sind finanziell am schlechtesten ausgestattet. Die haben meist sehr geringe Steuereinnahmen und hohe Sozialausgaben.
Bedingt das eine nicht das andere?
Es ist ein tödlicher Kreislauf. Der nur mit größtmöglichem Mut zu lösen ist.
Was heißt das?
Man muss in den Konflikt mit den Haushaltsbehörden gehen.
Nach dem Motto: Wir haben zwar kein Geld, geben es aber trotzdem für Prävention aus?
Genau. Der Verzicht auf Prävention ist am Ende teurer als die Prävention selbst. Eine Heimunterbringung für Kinder und Jugendliche beispielsweise kostet eine Kommune mehr Geld, als eine Familie von Grund auf zu unterstützen.
Am Ende ist damit allen am ehesten geholfen?
Es geht, um das an dieser Stelle zu wiederholen, ums Kindeswohl. Das muss in der Gesellschaft vorrangige Stellung haben.
Das Kindeswohl beinhaltet das Mitspracherecht von Kindern. Das kann man breit auslegen.
Machen wir es wieder an einem Beispiel deutlich. Ein Kind, das jahrelang in einer Pflegefamilie gelebt hat, soll zu seinen leiblichen Eltern zurück. Nun will das Kind aber gar nicht mehr zurück, weil es sich in der Pflegefamilie wohlfühlt und dort bleiben will. Dieser Wunsch des Kindes sollte berücksichtigt werden.
Ist das nicht selbstverständlich?
Nicht in jedem Fall. Vielfach spielt die biologische Verbindung zwischen Kind und Eltern eine größere Rolle als das Kindeswohl. Es gibt viele Fälle, bei denen mit Kindern regelrecht Pingpong gespielt wird. Die wandern von einer Pflegefamilie zur nächsten, das hat für sie enorme psychische Folgen. Weswegen sich die Pflegefamilien irgendwann mit den Kindern überfordert fühlen. Dann kommen die Kinder in ein Heim, was es für sie noch dramatischer macht. Und am Ende landen sie in der Kinder- und Jugendpsychiatrie.
Sie sagen, auch Babys sollen ein Mitspracherecht haben. Wie soll das gehen?
Durch Beobachtung. Wenn ein Baby beispielsweise aus einer gewalttätigen Familie herausgenommen wurde, sich die Familie stabilisiert hat und das Baby wieder zurücksoll, aber beim ersten Treffen strampelt, schreit und weint, kann es nicht zurück. Die Reaktion des Babys ist doch deutlich, dass es das nicht will.
Aber wenn sich die Familie doch stabilisiert hat?
Dann muss es vorsichtige, sukzessive Aufbauarbeit geben, gemeinsam mit dem Kind, den leiblichen Eltern und der Pflegefamilie. Kinder und Erwachsene sind immer Erziehungspartner:innen, egal wie Kinder und Erwachsene biologisch oder sozial miteinander verbunden sind. Wer Kindeswohl ernst nimmt, muss den Willen von Kindern ernst nehmen.
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