Experte über Eskalation in Nahost: „Neues Gefühl der Verwundbarkeit“
Mit dem Hamas-Terror glaubte Israel leben zu können, sagt der ehemalige Tel Aviver Bürochef der Böll-Stiftung, Steffen Hagemann. Das sei nun vorbei.
taz: Herr Hagemann, machen Sie sich Sorgen um die Region, in der Sie selbst bis vor gar nicht so langer Zeit gelebt haben?
Steffen Hagemann: Ja, ich habe bis Ende vergangenen Jahres vor Ort gelebt. Ich mache mir große Sorgen um die Menschen, die dort leben und jetzt Terror und Gewalt ausgesetzt sind. Ich habe am Samstagabend, am Sonntag mit vielen Freunden dort gesprochen, telefoniert. Israel ist ja ein sehr kleines Land, sodass jeder und jede Personen kennt, die direkt betroffen sind. In meiner Zeit als Büroleiter der Heinrich-Böll-Stiftung war ich auch im Gazastreifen, wir haben dort Partner – auch um diese Menschen mache ich mir Sorgen. Insgesamt ist es eine Situation, unter der die Zivilistinnen und Zivilisten leiden.
Eine Hamburger Tageszeitung sprach von „Israels 9/11“. Wie singulär ist die jüngste Eskalation des Terrors?
Der Angriff fällt auf den Jahrestag 50 Jahre Jom-Kippur-Krieg, und da gibt es schon eine Reihe von Ähnlichkeiten: Das Land ist überrascht worden und befindet sich in einem Schockzustand, niemand hat mit dem gerechnet, was nun passiert ist. Es gibt ja seit Jahren immer wieder Raketenangriffe der Hamas, das ist den Israelis bekannt, damit konnten sie auch umgehen, so schien es. Es gab das Gefühl: Wir haben den „Iron Dome“ …
… das Raketenabwehrsystem …
*1978, ist Assistenzprofessor für Politikwissenschaft an der Technischen Universität Kaiserslautern. Von Dezember 2018 bis September 2022 leitete er das Büro der Heinrich-Böll-Stiftung in Tel Aviv, Israel.
… und die Bedrohung im Griff, wir haben auch die Hamas ein Stück weit abgeschreckt – das ist jetzt völlig verloren gegangen. Die Hamas ist eingedrungen in israelische Kibuzzim und Dörfer rund um den Gazastreifen, hat Menschen ermordet, Geiseln genommen, auch Armeeposten überrannt, und es gab zunächst überhaupt keine Gegenwehr; auch die Armee war nicht vor Ort. Und es gab diesen Rave in der Nähe des Gazastreifens, da sind mehr als 250 Menschen ermordet und weitere entführt worden: Dieses Vorgehen und diese Brutalität haben einen tiefgehenden Schock und ein ausgeprägtes Gefühl der Verwundbarkeit bewirkt. Das ist neu. Und wenn man es unbedingt mit 9/11 vergleichen will: Die Opferzahlen sind in Relation zur betroffenen Bevölkerung schon jetzt sehr viel höher in Israel als damals in den USA. Ich glaube, das Entscheidende gerade ist: Das Gefühl, dass man stark ist, es zwar immer wieder Gewalt gibt, die Armee aber letztlich für die Sicherheit garantieren kann: Das ist zerstört worden.
Haben wir es nicht auch mit einem Versagen zu tun, und zwar dem eines Sicherheitsapparats, der genau diese eine Aufgabe hatte?
Das wird in Israel langsam diskutiert. Im Moment geht es natürlich jetzt erst einmal darum zusammenzustehen. Aber diese Debatte hat begonnen. Es geht dabei nicht nur darum zu sagen, dass dies ein Versagen der Sicherheitskräfte oder ein Versagen der Geheimdienste ist. Es ist letztlich auch ein politisches Versagen. Nicht nur die aktuelle Regierung, sondern auch jene davor, haben darauf gesetzt, den Status quo zu managen. Die Regierungen haben geglaubt, dass sie den Konflikt so weit „schrumpfen“ würde können, dass die palästinensische Frage nicht mehr so wichtig ist, dass man eine politische Regelung ersetzen kann durch einen ökonomischen Frieden und eine Normalisierung mit den arabischen Nachbarländern. Die Einschätzung war, dass Hamas damit zufrieden sein werde, praktisch Regierungsmacht im Gazastreifen zu sein. Und das alles, ohne dass es einen Horizont für eine politische Regelung gibt. Die Politik auch der alten Netanjahu-Regierung war es ja gerade, die palästinensische Spaltung zu erhalten, die Autonomiebehörde im Westjordanland zu schwächen, um keinen Friedensprozess führen zu müssen, und auf der anderen Seite die Hamas zu stärken: Geld aus Katar wurde reingelassen, es gab ökonomische Erleichterungen, Arbeitserlaubnisse für Bewohner des Gazastreifens beispielsweise. Dieses Konzept ist jetzt auch gescheitert. Und dafür gibt es politisch Verantwortliche.
Welchen Ausweg sehen Sie?
Letztlich braucht es eine Regelung des israelisch-palästinensischen Konflikts. So etwas ist jetzt gerade natürlich nur sehr schwer vorstellbar. Nimmt man den Vergleich mit dem Jom-Kippur-Krieg ernst, dann könnte man sagen: Damals stand sechs Jahre nach dem Krieg der Friedensschluss mit Ägypten. Aber so was ist kein Automatismus. Dafür müssen die politischen Akteure auch etwas tun. Vielleicht aber entsteht doch ein Gefühl der Dringlichkeit, den Konflikt regeln zu müssen. Auf der akuten Tagesordnung stehen aber erstmal andere Fragen.
Welche Rolle kann eine Organisation wie “Parents Circle“ spielen, deren Arbeit Sie eigentlich am Dienstag in Hamburg hätten mit vorstellen wollen?
Wir sind in einer total emotionalen Situation. Es gibt gerade viel Angst und Wut in der israelischen Gesellschaft, und die Frage ist: Wie umgehen mit diesen Emotionen? Man kann das auf der einen Seite in Gewalt transformieren, in dem Wunsch, die Palästinenser bestrafen und Vergeltung üben zu wollen. Parents Circle steht dafür, dass Leid aber auch dazu motivieren kann, einen Ausweg zu finden, der auf Verständigung und eine Friedensregelung setzt.
Wie viel Optimismus bringen Sie selbst auf?
Man braucht mehr als ein bisschen Optimismus, sich auch weiter für den Frieden zu engagieren. Im Moment ist die Situation düster, auch, was in den nächsten Tagen zu erwarten ist. Es werden weitere zahlreiche Opfer zu beklagen sein. Es ist klar, dass Israel angegriffen worden ist, dass Kriegsverbrechen begangen worden sind. Und trotzdem ist es jetzt wichtig, in der Reaktion, so gut das irgend geht, einen kühlen Kopf zu bewahren. Ein israelischer Journalist hat geschrieben, es gibt diese Parallelen zum Jom-Kippur-Krieg, aber es gibt eben auch einen großen Unterschied: Israel ist jetzt nicht von Armeen angegriffen worden, Israel steht nicht vor einer existenziellen Bedrohung. Und das gibt dem Land die Möglichkeit, strategische Entscheidungen zu treffen, sodass es keine Eskalation in einem regionalen Krieg gibt. Das ist, glaube ich, kurzfristig wichtig. Aber es braucht darüber hinaus Menschen, die sich dafür engagieren, dass am Ende nicht bloß Feindbilder stehen.
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