Evangelischer Kirchentag: Was für ein Misstrauen
Der am Mittwoch beginnende Evangelische Kirchentag ist eine Wellness-Mogelpackung. AfD-Politiker*innen dürfen sich dort nicht einmal selbst blamieren.
Kirchentage, die evangelischen besonders, sind Hochämter der Einflussnahme, politisch und vor allem kulturell, auf die Dinge, die politisch wirkmächtig sind. Und werden. Wer auf Kirchentagen das Publikum auf seine oder ihre Seite bekam, hatte im Leben jenseits des einflussreichsten Glaubens der Nachkriegszeit gute Karten. Kirchentage sind keine dieser meist ja steifen, ritualisierten amtskirchlichen Veranstaltungen, sondern Massenevents, vor allem solche jüngerer Menschen. Kirchentage, besonders die seit den unruhigen Jahren der späten Sechziger, waren Foren der gesellschaftlichen Debatten. Sie sind unabhängig von den Amtskirchen – kein Bischof, keine Bischöfin kann sagen, was dort angesagt zu sein hat.
Kirchen protestantischer Art haben zunächst stets alles an emanzipatorischen Bewegungen verschlafen, die jenseits von ihr aufblühten. Die offiziellen Kirchen haben viel dafür getan, dass es keine Aussöhnung mit Israel gibt, dass die Kriminalisierung von abtreibenden Frauen und ihren Ärzt*innen beibehalten wird, dass Homosexuelle drakonisch verfolgt werden. Aber die christlichen Laien auf ihrem Fundament, den Kirchentagen, haben diesen herzlichen Verkrustungen abgeholfen – und sie beseitigt.
Viel Gutes haben Kirchentage gezeigt und als Hausaufgaben mit auf die Wege vieler gegeben. Fragen um die Aussöhnung mit Israel, die Annäherung an die Menschen aus dem verbrecherisch durch die deutsche Wehrmacht verwüsteten Osten Europas, die um die Demokratisierung der bundesdeutschen Verhältnisse in den Siebzigern, schließlich jene um die Friedensfragen, die die evangelische Kirche als Popularisierungsmaschine der Friedensidee schlechthin auswies: Schwerter zu Pflugscharen – im Übrigen gern und sehr deutsch übersehend, dass ohne den supermilitärischen D-Day in der Normandie, Pflugscharen zu Schwertern, Nazideutschland niemals besiegt worden wäre.
Kirchentage, das erkannten Politiker*innen damals natürlich auch, sind große Schwimmbäder der Einflussnahme unterhalb der politischen Sphären: Wer auf Kirchentagen reüssierte, war kein Niemand mehr. Dorothee Sölle, Margot Käßmann, Luise Schottroff oder Jörg Zink holten sie auf Kirchentagen den wärmenden Beifall, der ihnen amtskirchlich oft nicht so zuteilwurde, wie es ihre Basis gern gehabt hätte. Kirchentage – das sind tatsächlich immer seismografisch zu nehmende Events, die die politische Großwetterlage abbildeten – und beförderten.
Union und FDP als Ramschprodukte
Auf den Kirchentagen bis Ende der neunziger Jahre war die 1998 auch offiziell gewählte rot-grüne Bundesregierung das mächtige Sehnensprojekt: Mit den guten Roten und den noch besseren Grünen würde alles gut werden auf Erden. Politiker*innen hatten es dort immer gut, die, wie es in kirchlicher Sprache so zwiespältig hübsch heißt, „mitnehmen“, „abholen“ und ganz geerdet und berührbar von Sinnen sich zeigen.
Kirchentage unter evangelischen ChristInnen heißt: Ernst zu nehmen, was dort verhandelt, erörtert, begrübelt und was direkt zur Sprache gebracht wird.
In Dortmund stehen Themen wie Migration, Feminismus, Klima und Umwelt im Mittelpunkt. Typische taz-Themen also.
Deshalb begleiten wir den Kirchentag auch: vor Ort und mit vier täglichen Sonderseiten in der Zeitung. Die taz Panter Stiftung hat dafür 9 junge JournalistInnen ins Ruhrgebiet geschickt.
Joachim Gauck hat auf Kirchentagen sein Publikum, Angela Merkel, spätestens seit der großen Einwanderungsbewegung 2015, ihr größtes: Held*innen der mächtigen Christenszene, die nicht kalt scheinen, sondern, nun ja, menschlich, beifallumtost. Kirchentage, das gehört fundamental zu ihnen, waren nie national begrenzt, Männer und Frauen aus dem globalen Süden waren und sind zu Gast.
Von heute an in Dortmund wird bis Sonntag zu registrieren sein, wer zu den aktuellen Stars der Szene gehört. Robert Habeck, natürlich, wird kommen, selbstverständlich auch Annalena Baerbock wie auch seitens der SPD Kevin Kühnert und von der CDU, von der fast schon präsidentiell wirkenden Kanzlerin abgesehen als Superpromi nur noch Ministerpräsident Armin Laschet.
Nicht im Personenregister des fast 600-seitigen Programms stehen Namen wie Annegret Kramp-Karrenbauer, Friedrich Merz, Paul Ziemiak oder Christian Lindner. Das verheißt für Letztere nichts Gutes: In ihnen scheint das Kirchentagsplangremium keine Zukunft zu sehen – nicht einmal als Diskurs-Antifiguren. Kirchentage sind Get-together der kommenden Entscheider*innen der Republik, und die Aktien der Leute von der Union wie der FDP haben auf Kirchentagen den Preis von Ramschprodukten.
Pharisäerhafte Produkttäuschung
Solche Personaltableaus von Kirchentagen zeigten schon früher zuverlässig, wer was wird und wer eher nicht. Dieses Mal aber gibt es ein No-go, und das hat die Leitung des Kirchentags unter Führung ihres neuen Kopfes Hans Leyendecker formuliert. Der einstige Investigationsjournalist der Süddeutschen Zeitung (und des Spiegels) hat in einem Interview mit der Zeit-Beilage Christ und Welt gesagt: „Dem Kirchentag geht es ums Zuhören, aber ich möchte nicht Herrn Gauland zuhören.“ Was für einen Christenmenschen schon eine erstaunliche Aussage ohnehin ist, spitzt er noch mit dem Satz zu: „Die AfD entwickelt sich rasend weiter nach rechts, die Radikalisierung der Partei schreitet voran.“
Das ist zwar richtig, aber wenn Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier, ebenfalls aus Anlass des Kirchentags in Dortmund, ein Loblied auf die „offene Gesellschaft“ anstimmt und dafür plädiert, mit Menschen ins Gespräch zu kommen, die anderer Meinung sind, dann kommt das einer pharisäerhaften Mogelpackung gleich – besser: einer Produkttäuschung. Kirchentag ist dann tatsächlich ein Gehege begrenzter Meinungsfreude.
Kein Missverständnis: Haltungen, Programme und Performancer der AfD und ihrer Verantwortlichen kommen gespenstischem Voodoogeplapper gleich, sie berühren mehr als nur selten geistige Pfade, die den Comment, den das Grundgesetz absteckt, schwer verletzt – ein Stichwort wie „Vogelschiss“ mag reichen. Aber der Evangelische Kirchentag firmiert unter dem Motto „Was für ein Vertrauen“. Der Grundsatz, AfD-Leute nicht auf Podien zu bitten, spricht dem Hohn. Besser wäre der Titel: „Was für ein Misstrauen!“ Die Idee, durch eine Nichteinladungspolitik die Welt im guten Zaum zu halten, ist ohnehin infantil: Ich lege mir die Hände auf die Augen und behaupte, die Welt existiere nicht.
Was Steinmeier fast nachdenkensarm so vor sich hin tremoliert, was Leyendecker mit durchgesetzt hat – ist keine offene Gesellschaft namens Kirchentag, sondern ein geschlossenes Milieu der Eingeweihten, der Bekehrten, das glaubt, den Schmutz, so gehen ja offenbar ihre Fantasien, einer wenigstens zwölfprozentigen Realität außen vor lassen zu können. Misstrauen ist das Charakteristikum einer solchen Haltung – denn man glaubt, dass das gute Volk der Kirchentagsschäfchen von den Reden, Beiträgen und Interventionen eines AfD-Menschen vergiftet werden könnte. Falls dem so wirklich sein sollte: wie erbarmungswürdig, was für ein Zeugnis an Unsouveränität. Als ob nicht in der konkreten Debatte bislang noch jeder und jede aus dem AfD-Milieu haushoch mit Argumenten abgeräumt worden wäre.
Unerwünschte Kommunikation
Der Beschluss, sie sich nicht einmal selbst blamieren zu lassen, sie an der Kraft der christlichen Neugieratmosphären – so möchte man doch hoffen – scheitern zu sehen, ist, jesuanisch gesprochen, unwürdig vor der Kraft all dessen, was Religiöses zumal im christlichen Sinne bedeuten könnte. Als ob sie alle nicht wüssten, dass auf allen Kirchentagen evangelischer Art der vergangenen 50 Jahre Rechte und Rechtspopulisten wie Tapfere kamen und als Räudige wieder abreisten. Die Furcht war nicht oft auf protestantischer Seite wirksam. Öfter, ja, meist lebten Kirchentage von der Kunst, den spirituell, kulturell wie politisch, orientierten Gegner oder Gegnerin mit aller Kraft zu umarmen – und damit zu marginalisieren.
Der Kirchentag in Dortmund, im Herzen einer immer amtskirchenferner werdenden deutschen Wirklichkeit, der wird mit dem Makel leben müssen, Kommunikationen für unerwünscht zu erklären. Sich gegen jeden – und sei er noch so fies und mies – Einspruch zu verwahren. Leyendecker (und auch Steinmeier) glauben gewiss, das Richtige zu tun: mit AfD-wählenden Menschen – irgendwie gönnerhaft – zu reden, aber nicht mit jenen, die sie in die Parlamente wählten. In der Bibel ist von Feigheit vor den Freund*innen die Rede, sie empfiehlt jedenfalls kein Kontaktverbot. Sie spricht, auch im Hinblick auf die unoffene Gesellschaft von Dortmund, nur zu wahr.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Ausschreitungen in Amsterdam
Ein hitziges Nachspiel
Wahl in den USA
Sie wussten, was sie tun
Obergrenze für Imbissbuden
Kein Döner ist illegal
Regierungskrise in Deutschland
Ampel kaputt!
Lehren aus den US-Wahlen
Wo bleibt das linke Gerechtigkeitsversprechen?
Abschiebung aus dem Frauenhaus
Schutzraum nicht mehr sicher