Kirchentag in Stuttgart: Die Christen wippen
Mit Techno-Gottesdiensten versucht die evangelische Kirche, junge Menschen für den Glauben zu begeistern. Das klappt längst nicht bei allen.
Der religiöse Rave ist einer der Versuche der Kirche, innovativ und modern zu sein, um junge Menschen zu erreichen. Das stößt jedoch auch auf Befremden – auch bei der Zielgruppe. „Alles reizt mich mehr als das“, sagt etwa der 16-jährige Lukas Böbinger, der lieber zum Taizé-Gottesdienst auf der Jugendmeile geht. Es sei einfach zu gewollt. „Das hat die Kirche nicht nötig, sie darf sich nicht verraten.“
Techno-Gottesdienst? „Darf schon sein“, sagt Bruder Matthias von der Ordensgemeinschaft Don Bosco, der gerade Luftballons zuknotet. Doch sein Blick sagt etwas anderes. Obwohl Bruder Matthias weiß, dass die Kirche sich Neues einfallen lassen muss, um die Jugend anzusprechen, hat er erst mal eigene Erwartungen an sie: „Die müssen vom Gedanken der Spaßgesellschaft wegkommen.“
Doch so läuft das nicht. Hinter dem Luftballontisch hat der Bund der Deutschen Katholischen Jugend drei Pavillons aufgebaut. Vor dem Workshopzelt mit Zirkuspädagogen und einem Café bilden sich lange Schlangen. Das Zelt mit der Aufschrift „Pray & Silence“, das zum Innehalten und Gebet einlädt, dagegen: leer.
Kirchentage unter evangelischen ChristInnen heißt: Ernst zu nehmen, was dort verhandelt, erörtert, begrübelt und was direkt zur Sprache gebracht wird.
Die taz war immer so frei, gerade das an Kirchentagen aufzuspießen, was allzu wohlgefällig im „Allen wohl und niemand weh” unterzugehen droht. Streit nämlich, echte Kontroverse und das Vermögen, scharf Stellung zu beziehen.
Deshalb begleiten wir den Kirchentag auch: in Stuttgart vor Ort und mit vier täglichen Sonderseiten in der Zeitung. Zum ersten Mal schickt die taz Panter Stiftung dafür junge Journalisten nach Stuttgart, die die Berichterstattung übernehmen. Die elf ReporterInnen sind weit angereist, aus Mainz, Berlin oder Hamburg etwa. Es berichten: drei Katholiken, zwei Protestanten, eine Muslima und fünf Atheisten.
Voller ist es dafür im Lehmann-Club. Einer von rund 100 Gästen ist Michael Nolte, Ehrenamtlicher in der Jugendarbeit der Kirche. Er findet schon ganz gut, was die Kirche für den Nachwuchs so tut, will sich hier aber ein Bild davon machen, ob auch Formen wie diese ein Weg für die Zukunft sein könnten.
Nun erklingt der erste Track aus den Boxen, die Christen wippen – zunächst noch etwas zaghaft. Zwei Stunden lang wird getanzt und gebetet, getanzt und gelesen, getanzt und geredet … Und dann noch mal gebetet. Das Konzept geht für viele nicht auf. Der Club leert sich. Auch Michael Nolte geht wieder. „Das ist für mich in dieser Kombination keine Form, um junge Leute in die Kirche zu holen“, sagt er.
Ähnlich sehen das Sophie und Friederike aus der Nähe von Bielefeld. Was sie jetzt machen sollen, wissen sie noch nicht genau. Weil es zwischen elektronischer Musik im Club und spirituellem Gemeinschaftsgesinge keine Angebote für Teenager gibt, werden sie wohl einfach durch Stuttgart laufen. Die Kirche hat es wieder nicht geschafft.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
MLPD droht Nichtzulassung zur Wahl
Scheitert der „echte Sozialismus“ am Parteiengesetz?
Mord an UnitedHealthcare-CEO in New York
Mörder-Model Mangione
Geschasste UN-Sonderberaterin
Sie weigerte sich, Israel „Genozid“ vorzuwerfen
Förderung von E-Mobilität
Habeck plant Hilfspaket mit 1.000 Euro Ladestromguthaben
Fake News liegen im Trend
Lügen mutiert zur Machtstrategie Nummer eins
Vertrauensfrage von Scholz
Der AfD ist nicht zu trauen