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Evakuierungen aus AfghanistanBittere Realpolitik

Sven Hansen
Kommentar von Sven Hansen

An den Taliban führt bei der Evakuierung der bedrohten Menschen aus Afghanistan kein Weg vorbei. Eine offene Konfrontation wäre zu riskant.

Nicht glücklich war Boris Johnson über Bidens Entscheidung, am Abzugstermin festzuhalten Foto: Alastair Grant/ap

D ie Massenevakuierung zehntausender Menschen aus Afghanistan bleibt ein riskantes Stückwerk, dessen Ursache politische Fehlentscheidungen sind. Die Evakuierung endet zu früh und ist den neuen realen Machtverhältnissen geschuldet. Der Einsatz der Soldaten, die Landsleute und Ortskräfte herausholen, ist für die Uniformierten eine extreme physische und psychische Belastung. Die Gefahr von Anschlägen wie von Kurzschlussreaktionen oder einer tödlichen Massenpanik sind real.

Politiker wie US-Präsident Joe Biden und auch die Bundestagsabgeordneten tragen Verantwortung für die Soldaten und agieren vor allem aus innenpolitischem Kalkül. Biden hat stark an Ansehen verloren. Eine Verlängerung der Evakuierungsmission über das von ihm ursprünglich selbst genannte Datum hinaus ließe ihn wankelmütig erscheinen und neuen Zweifel an seinen Führungsqualitäten wecken.

Auch könnten die Evakuierungen letztlich nur mit Duldung der Taliban fortgesetzt werden. Denn jede Konfrontation mit den neuen afghanischen Machthabern nach dem 31. August, an dem sie die Evakuierungen beendet sehen wollen, birgt unkalkulierbare Risiken. Die Nato hat die Taliban in zwanzig Jahren nicht besiegen können und kann sie deshalb auch jetzt nicht ignorieren.

Im Sinne eines politischen Übergangs mit (begrenzten) humanitären Ansprüchen muss mit ihnen gesprochen werden, wie dies am Dienstag sogar der CIA-Chef persönlich in Kabul demonstrierte. Das ist Realpolitik. Da die Taliban inzwischen gemerkt haben, dass sie zwar Feinde ins Ausland entsorgen lassen können, jedoch Probleme drohen, wenn auch viele Fachkräfte fliehen, wollen sie die Evakuierungen beendet sehen.

Darüber hinaus ist es für sie ein Ansehensverlust, wenn Zehntausende fliehen. Deshalb werden jetzt nicht mehr alle aus Afghanistan herausgeholt werden, bei denen die internationale Gemeinschaft in der moralischen Pflicht steht. Schon bei den Abzugsentscheidungen von Donald Trump und Joe Biden standen innenpolitische Motive im Vordergrund, das Schicksal von Afghanen und Afghaninnen war nicht entscheidend.

Und bei den Evakuierungen jetzt hatten diejenigen, die nicht in Kabul sind, von vornherein schlechte bis gar keine Chancen. Das ist bitter, ungerecht und für manche tödlich. Mit Verhandlungsgeschick und hohem Geldeinsatz lassen sich vielleicht später noch manche Ortskräfte auf zivilen Wegen aus dem Land herausholen, sofern sich die Taliban nicht schon an ihnen vergriffen haben.

Doch letztlich können die Evakuierungen – jetzt oder später – die politischen Fehlentscheidungen im Vorfeld des Abzugs und seines Ablaufes nur begrenzt korrigieren. Die politischen Verantwortlichen müssen deshalb für die Fehler zur Rechenschaft gezogen werden.

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Sven Hansen
Auslandsredakteur (Asien)
Asienredakteur seit 1997, studierte Politologie in Berlin und Communication for Development in Malmö. Organisiert taz-Reisen in die Zivilgesellschaft, Workshops mit JournalistInnen aus Südostasien und Han Sens ASIENTALK. Herausgeber der Editionen Le Monde diplomatique zu Südostasien (2023), China (2018, 2007), Afghanistan (2015) und Indien (2010). Schreibt manchmal auch über Segeln. www.fb.com/HanSensAsientalk @SHansenBerlin
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7 Kommentare

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  • Eine offene Konfrontation wäre zu riskant. Plötzlich. Wenn Hilfe am dringendsten gebraucht wird.

  • Ich habe bisher immer die Politiker als Menschen in Schutz genommen, wenn es allzu harte Schelte gab. Dieser Fall hier zeigt allerdings, dass es auch in Deutschland Politiker gibt, die vermutlich irgendwelche wahlpolitischen Erwägungen vor die Rettung von Menschenleben stellen. Das ist für mich eine neue Erkenntnis (man darf mich also berechtigt naiv nennen), die in mir Ekel und Verdrossenheit erzeugt.

    • @Axel Donning:

      Zynisch erscheint mir auch die Entscheidung der EU-kommission, anstatt der bisherigen 50Millionen €, den Taliban das Vierfache, nämlich gleich 200 Mio € zu geben. Das nenne ich Naivität!

      Wieviele gefährdete Menschenleben glauben die denn damit zu retten?

      Das wäre wohl ein Hebel, wollte man ihn denn richtig ansetzen...

    • @Axel Donning:

      Nein, Sie sind nicht naiv! Sie wollen nur auch an das Gute in den Menschen glauben - und wenn es noch so wenig ist. Was hier geschieht ist unsagbar traurig, zeigt es doch, dass es Politiker gibt, die sich selbst im Sinne von Menschlichkeit in Zyniker verwandeln, so unfassbar es erscheinen mag.

  • Ein gut zu lesender Artikel:



    eine Beschreibung dessen, was momentan stattfindet ohne den sonst oft üblichen hochmoralisch empörten Ton samt Schuldzuweisungen.



    Dieser Satz im 3. Absatz ist etwas verwirrend bzw. doppeldeutig:



    'Die Taliban hat die Nato in zwanzig Jahren nicht besiegen können und kann sie deshalb auch jetzt nicht ignorieren.'



    Wahrscheinlich ist gemeint: 'In zwanzig Jahren ist es der Nato nicht gelungen, die Taliban zu besiegen und kann sie deshalb jetzt auch nicht ignorieren.'

  • Zitat: „Doch letztlich können die Evakuierungen – jetzt oder später – die politischen Fehlentscheidungen im Vorfeld des Abzugs und seines Ablaufes nur begrenzt korrigieren. Die politischen Verantwortlichen müssen deshalb für die Fehler zur Rechenschaft gezogen werden.“

    Da fehlt ein „t“. Im Wort „müssen“, meine ich. Es muss heißen: „Die […] Verantwortlichen MÜSSTEN zur […] Rechenschaft gezogen werden.“ Aber wer sollte das tun? Und auf welcher Grundlage?

    Davon mal abgesehen, wissen die Verantwortlichen natürlich selbst nur zu gut, was sie verdient hätten, wenn es schon so was wie eine Rechenschaftspflicht gäbe. Sie hätten sonst nicht umgehend versucht, die Verantwortung für ihre Fehlentscheidungen zu delegieren.

    „Wir hätten nicht erwartet“, haben sie ausrichten lassen, „dass die afghanische Armee so einfach aufgibt“. Soll heißen: So was passiert doch jedem mal. Ständig eigentlich. Fehleinschätzungen sind etwas völlig normales. Etwas, wofür man schon bestraft genug ist, auch wenn man nicht von anderen bestraft wird.“

    Mag sein. Nur: Normalerweise übernehmen Menschen Verantwortung für das eigene Handeln bzw. das der eigenen Kinder. Sie entscheiden, so weit sie sehen können, und verlassen sich nicht blind auf die, denen sie Befehle erteilen dürfen. Auch das ist riskant, sicher. Man überblickt nicht immer alle Zusammenhänge, hat selten alle nötigen Informationen.

    Sogenannte Führungskräfte aber maßen sich darüber hinaus an, Verantwortung zu übernehmen für das Handeln Erwachsener, die sie noch nie getroffen haben. Und zwar in der seltsamen Annahme, die müssten zwingend richtig handeln, wenn ihre Auftraggeber das fordern von ihnen. Und zwar selbst dann noch, wenn die erteilten Befehle dumm waren. Das ist nicht riskant. Das ist Wahnsinn.

    So etwas kann nicht funktionieren. Schon gar nicht, wenn die Untertanen zwar aussehen wie Erwachsene, sich aber doch nur an den Führern orientieren und über Verantwortung mehr reden, als verantwortlich zu handeln.

    • @mowgli:

      "Willst Du den Wert eines Menschen erkennen, so gib ihm Macht!" Zitat, Quelle unbekannt.

      Wohin man derzeit sieht (und sei es hier bis hinein in die kleinste Bürostube) kann man die Wahrheit dieses Satzes erkennen. Schmeckt bitter, nicht wahr!

      Dem letzten Absatz (und nicht nur dem) muss ich ebenfalls zustimmen, so schlimm das ist.