Evakuierungen aus Afghanistan: Bittere Realpolitik
An den Taliban führt bei der Evakuierung der bedrohten Menschen aus Afghanistan kein Weg vorbei. Eine offene Konfrontation wäre zu riskant.
D ie Massenevakuierung zehntausender Menschen aus Afghanistan bleibt ein riskantes Stückwerk, dessen Ursache politische Fehlentscheidungen sind. Die Evakuierung endet zu früh und ist den neuen realen Machtverhältnissen geschuldet. Der Einsatz der Soldaten, die Landsleute und Ortskräfte herausholen, ist für die Uniformierten eine extreme physische und psychische Belastung. Die Gefahr von Anschlägen wie von Kurzschlussreaktionen oder einer tödlichen Massenpanik sind real.
Politiker wie US-Präsident Joe Biden und auch die Bundestagsabgeordneten tragen Verantwortung für die Soldaten und agieren vor allem aus innenpolitischem Kalkül. Biden hat stark an Ansehen verloren. Eine Verlängerung der Evakuierungsmission über das von ihm ursprünglich selbst genannte Datum hinaus ließe ihn wankelmütig erscheinen und neuen Zweifel an seinen Führungsqualitäten wecken.
Auch könnten die Evakuierungen letztlich nur mit Duldung der Taliban fortgesetzt werden. Denn jede Konfrontation mit den neuen afghanischen Machthabern nach dem 31. August, an dem sie die Evakuierungen beendet sehen wollen, birgt unkalkulierbare Risiken. Die Nato hat die Taliban in zwanzig Jahren nicht besiegen können und kann sie deshalb auch jetzt nicht ignorieren.
Im Sinne eines politischen Übergangs mit (begrenzten) humanitären Ansprüchen muss mit ihnen gesprochen werden, wie dies am Dienstag sogar der CIA-Chef persönlich in Kabul demonstrierte. Das ist Realpolitik. Da die Taliban inzwischen gemerkt haben, dass sie zwar Feinde ins Ausland entsorgen lassen können, jedoch Probleme drohen, wenn auch viele Fachkräfte fliehen, wollen sie die Evakuierungen beendet sehen.
Darüber hinaus ist es für sie ein Ansehensverlust, wenn Zehntausende fliehen. Deshalb werden jetzt nicht mehr alle aus Afghanistan herausgeholt werden, bei denen die internationale Gemeinschaft in der moralischen Pflicht steht. Schon bei den Abzugsentscheidungen von Donald Trump und Joe Biden standen innenpolitische Motive im Vordergrund, das Schicksal von Afghanen und Afghaninnen war nicht entscheidend.
Und bei den Evakuierungen jetzt hatten diejenigen, die nicht in Kabul sind, von vornherein schlechte bis gar keine Chancen. Das ist bitter, ungerecht und für manche tödlich. Mit Verhandlungsgeschick und hohem Geldeinsatz lassen sich vielleicht später noch manche Ortskräfte auf zivilen Wegen aus dem Land herausholen, sofern sich die Taliban nicht schon an ihnen vergriffen haben.
Doch letztlich können die Evakuierungen – jetzt oder später – die politischen Fehlentscheidungen im Vorfeld des Abzugs und seines Ablaufes nur begrenzt korrigieren. Die politischen Verantwortlichen müssen deshalb für die Fehler zur Rechenschaft gezogen werden.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Müntefering und die K-Frage bei der SPD
Pistorius statt Scholz!
Krieg in der Ukraine
Russland droht mit „schärfsten Reaktionen“
Israel demoliert beduinisches Dorf
Das Ende von Umm al-Hiran
Angeblich zu „woke“ Videospiele
Gamer:innen gegen Gendergaga
Haldenwang über Wechsel in die Politik
„Ich habe mir nichts vorzuwerfen“
Israelis wandern nach Italien aus
Das Tal, wo Frieden wohnt