Estlands Außenminister über Nato-Gipfel: „Es gibt keine Grauzonen mehr“

Die Nato ebnet den Weg für die Mitgliedschaft der Ukraine. Ein Gespräch mit Estlands Außenminister Margus Tsahkna über Verantwortung und Entbehrungen.

Selenski vor einer Wand mit den Emblemen der Nato und zwischen den Fahnen der EU un der Ukraine

Ukraines Präsident Wolodimir Selenski am Mittwoch beim Nato-Treffen im litauischen Vilnius Foto: Yves Herman/ap

wochentaz: Herr Tsahkna, die Nato hat sich entschieden: Die Zukunft der Ukraine ist in der Nato. Aber nicht jetzt. Eine richtige Entscheidung?

Margus Tsahkna: Wir haben sehr hart an dieser Lösung gearbeitet und den Weg für die Ukraine zur Nato-Mitgliedschaft geebnet – ein historischer Schritt. So gibt es nun zum Beispiel keinen sogenannten Membership Action Plan mehr. Wir wissen aber aus der Geschichte: Der nächste Schritt muss nun sein, dass die Nato die Ukraine als volles Mitglied akzeptiert.

Der 46-Jährige ist seit April 2023 Außenminister von Estland. Von 2016 bis 2017 war er Verteidigungsminister des baltischen Landes. Er gehört der liberalen Partei Eesti 200 an. Im estnischen Tartu hat Margus Tsahkna Theologie studiert und im kanadischen Toronto Internationales Recht. Er hat vier Kinder.

Der ukrainische Präsident Selenski wollte einen Zeitplan, die Nato verzichtete darauf.

Es gibt kein fixes Datum. Warum? Um Putin daran zu hindern, Spielchen zu spielen. Wir entscheiden gemeinsam mit den Ukrainern, wann die Zeit für die Mitgliedschaft gekommen ist. Gemeinsame Entscheidungen gelten übrigens auch für alle anderen Vereinbarungen zur Unterstützung der Ukraine. Das betrifft insbesondere echte militärische Hilfen.

Mit dem Nato-Ukraine-Rat hat das Militärbündnis ein neues Gremium geschaffen. Eine Formalie oder auch ein historischer Schritt?

Der Rat ist ein sehr wichtiges Gremium – auch für mich persönlich. Wir beraten und arbeiten gemeinsam mit der Ukraine. Die Konstituierung des Rates auf dem Gipfel ist ein essenzieller Schritt, um den Beitritt der Ukraine vorzubereiten. Die Außenminister werden aktiv einbezogen und es wird nicht nur einen jährlichen Bericht geben, sondern kontinuierlich beraten.

Selenski hat vor dem Gipfel die Nato kritisiert. Verständlich?

Ich verstehe den Frust. In der Ukraine herrscht Krieg. Sie verliert ihre besten Söhne, Frauen werden täglich vergewaltigt, Kinder deportiert. Aber wir müssen auch sehen, dass wir – die Nato – hier einen realistischen Prozess anstoßen. Es handelt sich nicht um einen Film, den wir in unseren sicheren Häusern anschauen und am Ende gibt es ein „Happy End“. Die Nato und alle Staaten, wir müssen bereit sein, auch unsere Söhne in Zukunft in den Krieg für die Ukraine zu schicken.

In der Ukraine wird gekämpft, die Nato-Diplomaten ringen um jedes Komma bei Vereinbarungen. Passen diese zwei Welten zusammen?

Ich mag mir nicht vorstellen, wie es ist, Präsident eines Landes im Krieg zu sein, gleichzeitig entwerfen andere deine Zukunft, und du bist nicht dabei. Der Ärger Selenskis darüber ist also absolut verständlich. Noch vor drei Monaten wurde die Nato-Mitgliedschaft der Ukraine zur Diskussion gestellt. Das ist nicht mehr der Fall. Wir arbeiten sehr schnell. Nicht schnell genug für die Ukraine, aber jetzt sind wir Partner.

Als Außenminister Estlands ist die Bedrohung durch Russland für Sie nichts Neues. Sehen Sie sich verstärkt in der Verantwortung, Tempo für die Ukraine zu machen?

Wir wissen, dass aus dem Osten nichts Gutes kommt – und wir müssen Russland zurückdrängen. Ich bin sehr glücklich darüber, dass die EU militärische Hilfen für die Ukraine leistet. Eineinhalb Jahre zuvor ging es vor allem um landwirtschaftliche Hilfen, das hat sich sehr verändert. Jetzt stehen wir mitten in einem historischen Prozess, der Zeit brauchen wird. Es wird auch viel Blut vergossen, aber am Ende wird die Welt besser.

Moskau sieht die Nato-Entscheidungen als Bedrohung. Ihr Amtskollege, der litauische Außenminister, fordert eine permanente Stationierung von Truppen an der russischen Grenze. Teilen Sie diese Forderung?

Zunächst einmal muss Putin verstehen, dass es für ihn keine Hoffnung gibt, den Krieg zu gewinnen. Es gibt keine Grauzonen mehr, keine neutralen Gebiete in den Nachbarstaaten. Zweitens konzentrieren wir uns auf die militärische Unterstützung für die Ukraine. Die G7 haben beim Gipfel eine starke Erklärung unterzeichnet, die die Sicherheit der Ukraine auch für die Zukunft garantieren soll. Natürlich wollen wir ein demokratisches und friedliches Russland. Derzeit kann ich das aber nicht sehen. Die Realität ist, dass wir uns in Europa einem groß angelegten Angriff stellen müssen.

Litauen, Lettland und Estland haben beim Gipfel eine Vereinbarung mit der Nato getroffen, die den Verbündeten uneingeschränkten Zugang zu ihrem gemeinsamen Luftraum ermöglicht. Was bedeutet das?

Wir schützen uns und sind in der Lage uns zu verteidigen, wenn wir angegriffen werden. Beim letzten Gipfel in Madrid haben wir bereits die Voraussetzungen dafür geschaffen. Wir kooperieren dabei sehr stark mit Polen und Finnland, und sobald Schweden offiziell Nato-Mitglied ist, auch mit Stockholm. Die Zusage, dass Deutschland rund 4.000 Soldaten dauerhaft in Litauen stationiert, ist ebenfalls eine große Sache. Unsere Region ist nun besser geschützt als je zuvor.

Die Ukraine fordert immer mehr Kriegsgerät, jetzt auch international geächtete Streumunition. Haben Sie eine rote Linie?

Wir müssen den Ukrainern geben, was sie fordern, da sie genau wissen, was sie brauchen. Ich verstehe die internationale Kritik an der US-Zusage, Streumunition zu liefern. Aber wir hatten auch Diskussionen über die Lieferung von Panzern oder Kampfjets und Munition. Die Ukraine ist im Krieg und kämpft auch für uns. Russland nutzt jegliche Art von Waffen und Techniken.

Also schließen Sie den Einsatz von Nuklearwaffen nicht aus?

Es handelt sich dabei zuerst um eine politische Frage, wenn Russland Nuklearwaffen nach Belarus verlegt. Auch der Westen hat Nuklearwaffen – aber das ist natürlich nicht der Weg, den wir gehen wollen.

In Deutschland gibt es eine heftige Debatte über die Lieferung von Waffen und die deutsche Unterstützung für die Ukraine. Po­li­ti­ke­r:in­nen werden als Kriegstreiber bezeichnet. Haben Sie Verständnis für solche Diskussionen?

Natürlich, allein aus der deutschen Geschichte heraus. Deutschland hat bisher sehr viel Unterstützung geleistet und sehr viel an militärischem Gerät geliefert, mit Panzern oder Munition. Das ist eine große Veränderung – und natürlich gab es in der deutschen Gesellschaft viel Kritik. Höhere Erwartungen an die Bundesregierung habe ich nicht. Denn ich weiß, wenn Deutschland eine Entscheidung trifft, dann hält sich die Regierung daran.

Sie setzen sich sehr stark dafür ein, Putin und sein Regime vor einem internationalen Sondertribunal für Kriegsverbrechen zur Verantwortung zu ziehen. Kommen Sie voran?

Niemand soll sich hinter Immunität verstecken können und damit nicht für Verbrechen der Aggression belangt werden. Das gilt für Putin wie für alle Staats- und Regierungschefs. Ein solches Verfahren ist kompliziert. Es gibt sehr viele Fragen und die Schatten der Vergangenheit lasten auf einigen Staaten schwer. Aber es gibt immer auch einen juristischen Weg, wenn der politische Wille da ist. Wir arbeiten eng mit Polen zusammen und natürlich Litauen und Lettland, aber auch mit afrikanischen Staaten und Ländern in Lateinamerika. Es gibt eine starke Koalition von 30 bis 40 Staaten. Vermutlich wäre es das Beste, wenn die UN-Vollversammlung eine Führungsrolle einnimmt. Aber soweit sind wir noch nicht. Und wir müssen eng mit den Ukrainern zusammenarbeiten, da sie natürlich am meisten unter diesen Verbrechen leiden.

Aufrüstung und Verteidigung sind teuer. Die Nato-Staaten haben sich darauf verständigt, mindestens 2 Prozent der Wirtschaftsleistung zu investieren. Wie bewerkstelligen Sie die Mehrausgaben in Estland?

Dieser Text stammt aus der wochentaz. Unserer Wochenzeitung von links! In der wochentaz geht es jede Woche um die Welt, wie sie ist – und wie sie sein könnte. Eine linke Wochenzeitung mit Stimme, Haltung und dem besonderen taz-Blick auf die Welt. Jeden Samstag neu am Kiosk und natürlich im Abo.

Wir müssen den Krieg beenden. Und zwar wirklich beenden, wie nach dem Zweiten Weltkrieg. Estland investiert rund 3,2 Prozent des Bruttoinlandsprodukts in Verteidigung. Gerade haben wir unsere Steuern erhöht, um mehr Einnahmen zu haben. Ich habe vier Kinder und würde lieber dieses Geld meinen Kindern geben oder in Bildung und Innovationen stecken. Aber ohne Fähigkeiten, uns zu verteidigen – vor allem aufgrund der russischen Aggression – haben wir keine Zukunft.

Sie haben nicht nur den Verteidigungsetat aufgestockt, sondern Estland hat auch harte Sanktionen verhängt. Zum Beispiel dürfen russische Studierende sich nicht mehr an estnischen Universitäten einschreiben …

… wir haben Ausnahmen gemacht.

Welche?

Für Studierende, die in Estland lebten, bevor der Krieg begann. Und auch für Ärzte und Krankenschwestern. Sie haben schon seit längerer Zeit bei uns studiert oder gearbeitet.

Aber die estnischen Sanktionen sind nach wie vor sehr hart, neue Studierende oder Fachkräfte aus Russland bekommen kein Visum mehr.

Wir müssen Russland daran hindern, die Kriegsmaschinerie am Laufen zu halten, und wir müssen auch an die Oligarchen ran. Wir alle müssen mit Steuern und Einschränkungen den Preis für den russischen Angriffskrieg zahlen. Aber die Ukrainer sterben dafür.

Estland hat 50.000 Geflüchtete aus der Ukraine aufgenommen – im Vergleich zur Landesgröße ist das enorm. Hält die Solidarität in einem Land mit rund 1,3 Millionen Einwohner:innen?

Sie sind Teil unserer Gesellschaft und haben sofort die gleichen Rechte wie estnische Staatsbürger. Sie können arbeiten, studieren oder zur Schule gehen und profitieren von unserem Sozialsystem. Und wir bieten sofort Sprachkurse an, um praktische Probleme aus dem Weg zu räumen. Die Solidarität ist groß, denn unsere Familien erinnern sich sehr gut an die sowjetische Besatzung und wie wir im Zweiten Weltkrieg rund ein Viertel unserer Bevölkerung verloren haben. Das ist das wenigste, was wir für die Ukrainer tun können, denn sie kämpfen auch für uns.

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