Essay zu EU-Hilfen für Italien: Wie die „Reise nach Jerusalem“
Die Mitgliedschaft im Euro bedeutet für Italien Armut. Die EU muss das ändern – und kann das tun, ohne Steuergelder einzusetzen.
W er jetzt in den Nachrichten das Wort „Italien“ hört, denkt an Mittelmeer-Flüchtlinge, die nicht mehr ins Land gelassen werden. Das war vor wenigen Wochen noch anders. Damals dominierte die Nachricht, dass die neue italienische Regierung die Schulden erhöhen wollte, um die Wirtschaft anzukurbeln. Doch dieser Plan fand Gegenliebe bei den Deutschen. Die bange Frage war daher: Wird Italien aus dem Euro ausscheiden?
Vorerst hat die italienische Regierung nachgegeben und den parteilosen Professor Giovanni Tria als Finanzminister berufen, der dann auch brav versicherte, dass die italienische Regierung im Euro bleiben möchte und die Schulden begrenzt. Dieser Kotau mag die Eurogruppe erleichtern. Allerdings werden die Probleme damit nicht gelöst, sondern allenfalls vertagt.
Italien kann auf Dauer nicht im Euro bleiben, wenn die Währungsgemeinschaft für es Armut bedeutet. Im April 2018 lag die Jungendarbeitslosenquote bei 33,1 Prozent – und selbst dieser fatale Anteil ist noch eine Verbesserung. 2014 waren sogar 40 Prozent der italienischen Jugendlichen unbeschäftigt. Die neuen Arbeitsplätze sind zudem meist sehr schlecht bezahlt und befristet.
In Spanien, das ähnliche Probleme hat und auch eine neue Regierung, werden diese Stellen als trabajo basura, Mülljobs, bezeichnet. Vielen bleibt nur die Auswanderung: 1,5 Millionen Italiener haben ihre Heimat verlassen, um im EU-Ausland Arbeit zu finden. Nur Rumänen und Polen zieht es noch häufiger in andere Länder.
Mainstream-Ökonomen irren
Italien hat ein verlorenes Jahrzehnt durchlebt: Die Wirtschaftsleistung Italiens ist heute immer noch um 5 Prozent niedriger als im ersten Quartal 2008. Dringend stellt sich daher die Aufgabe, ein weiteres solches Jahrzehnt zu verhindern.
Neoliberale Mainstream-Ökonomen argumentieren gern,die Beschäftigungsquote in Italien sei so niedrig, weil auch die Produktivität, also die Leistungsfähigkeit der Wirtschaft, zu wünschen übrig ließe. Doch die Realität hat diese Theorie längst widerlegt. Italien hat heute eine höhere Produktivität als vor der Krise. Gleiches gilt für Spanien – aber die Arbeitslosigkeit hat nicht abgenommen, sondern zugelegt.
Das ist kein Zufall. Es ist nämlich genau anders herum, als Mainstream-Ökonomen glauben: Die Produktivität in Italien und Spanien ist gestiegen, weil die Arbeitslosigkeit zunahm. In der Krise haben die Unternehmen als Erstes jene Jobs gestrichen, die für die Produktion nicht unbedingt nötig waren, Jobs für Gärtner, Chauffeure und andere Dienstleistungen.
Auch der Bausektor ist geschrumpft, der ebenfalls viele Menschen beschäftigt hatte (und vergleichsweise wenig Maschinen). Der Wohlstand ist durch die gestiegene Produktivität jedoch nicht gewachsen, wie Italien zeigt, sondern es sind nur mehr Menschen ohne Arbeit.
Kinder trainieren
Der Irrtum der neoliberalen Ökonomen erinnert an die „Reise nach Jerusalem“: Kinder tanzen um Stühle, wobei es einen Stuhl weniger als Kinder gibt. Stoppt die Musik, sollen sich die Kinder setzen. Unweigerlich bleibt ein Kind übrig. Neoliberale würden nun empfehlen, dass man dieses Kind trainieren solle, damit es schneller reagiert, besser hört und sich geschmeidiger bewegt. Diese Idee ist natürlich unsinnig. Wenn der Plan aufginge, bliebe eben ein anderes Kind ohne Stuhl.
Für Arbeitslosigkeit gilt das Gleiche. Es ist wenig hilfreich, Betroffenen zu sagen, sie müssten halt „trainieren“, um besser zu werden als die anderen. Die Lösung wäre vielmehr, einen weiteren Stuhl beziehungsweise eine weitere Stelle zu schaffen, sodass alle einen Platz finden.
Wie aber entstehen Arbeitsplätze? Es ist banal: Private Firmen schaffen nur dann neue Stellen, wenn sie damit mehr Waren oder Dienstleistungen absetzen zu können glauben. Doch zurzeit sind die italienischen Unternehmer eher pessimistisch, weshalb sie kaum neue Jobs anbieten.
Bleibt also nur der italienische Staat. Er müsste mehr Geld ausgeben und beispielsweise in Bildung, Gesundheit und die öffentliche Infrastruktur investieren. Neue Stellen und zusätzliches Einkommen würden die gesamte Wirtschaft beleben. Auch private Unternehmen würden davon profitieren – sei es, dass der Staat direkt bei ihnen bestellt, sei es, dass die öffentlichen Angestellten bei der Privatwirtschaft kaufen.
Ohne Investition kein Wachstum
Neoliberale Ökonomen tun gern so, als könnte eine Wirtschaft wachsen und Arbeitsplätze schaffen, ohne dass vorher Geld fließt. Doch das ist schlicht nicht möglich. Irgendjemand muss investieren, wenn die Wirtschaft expandieren soll. Wenn jedoch die privaten Unternehmen ausfallen, wie in Italien, dann bleibt nur noch der Staat.
Leider hat die neoliberale Doktrin das Sagen in der Eurozone: Der Stabilitäts- und Wachstumspakt sowie die nationalen Schuldenbremsen begrenzen die staatlichen Defizite. Italien ist daher gefesselt und kann die heimische Arbeitslosigkeit nicht verringern.
Bisher ignoriert die Eurozone einfach, dass sich in Italien und Spanien enorme soziale Spannungen aufbauen. Das ist Selbstmord. Die Eurozone wird nur überleben, wenn die Beschäftigen nicht verarmen. Wenn das Elend zunimmt, ist der politische Zerfall zwangsläufig und keineswegs das Resultat irrationaler Entscheidungen von angeblich unmündigen BürgerInnen.
Italien braucht schnell Hilfe. Daher wäre es kontraproduktiv, darauf zu warten und zu hoffen, dass irgendwann der Wachstums- und Stabilitätspakt offiziell aufgeweicht werden könnte. Gesucht wird eine kreative Lösung, die fiskalisch nachhaltig ist, keine Vergemeinschaftung der Schulden erfordert, kein deutsches Steuergeld benötigt und den Stabilitäts- und Wachstumspakt bestehen lässt. Kurz: Gesucht wird eine Lösung, die das deutsche Mantra der „schwarzen Null“ unangetastet lässt.
Mainstream-Ökonomen irren schon wieder
Eine Möglichkeit wäre der Aufbau eines europäischen Finanzministeriums (eFin), das explizit die Aufgabe hätte, die Arbeitslosigkeit in der Eurozone auf einem niedrigen Stand zu halten. Ähnlich wie die Europäische Zentralbank (EZB) ein Inflationsziel von knapp 2 Prozent verfolgt, würde das eFin eine Arbeitslosenquote von, sagen wir, maximal 5 Prozent als Beschäftigungsziel anstreben. Ist die Beschäftigungslage schlecht, werden die Ausgaben erhöht, ist die Lage am Arbeitsmarkt gut, werden sie reduziert.
Staatliche Aufgaben gäbe es genug, nicht nur in Italien. Auch in Deutschland besteht ein Investitionsbedarf von etwa 100 Milliarden Euro. Vor allem den Kommunen fehlt das Geld, um Schulen, Straßen und Brücken zu sanieren. Diese öffentlichen Ausgaben würden auch die Produktivität der privaten Unternehmer steigern, weil diese ihre Waren effizienter transportieren könnten.
Die Mainstream-Ökonomen irren, wenn sie glauben, dass Produktivität dadurch zunimmt, dass man die staatlichen Ausgaben kürzt. Es ist umgekehrt: Unternehmen benötigen die Vorleistungen der öffentlichen Hand, um produktiv zu sein.
Bleibt die Frage: Wie kommt das eFin an Geld? Ganz einfach: Es würde europäische Staatsanleihen (Eurobonds) ausgeben, die von Banken gekauft werden könnten. Die Bürger müssten also keine Steuern nach Brüssel abführen. Diese Eurobonds wären übrigens sehr attraktiv, weil sie absolut sicher wären und kein Ausfallrisiko hätten. Sollten sich nämlich keine Interessenten finden, würde die EZB diese Eurobonds aufkaufen.
Keine Inflation
Eine unkontrollierte Inflation wäre trotzdem nicht zu befürchten, obwohl die Geldmenge durch die Eurobonds steigen würde. Der Grund ist schlicht dieser: Es ist nicht die Geldmenge, die bestimmt, ob es zu einer Inflation kommt.
Diese Tatsache konnte jeder EU-Bürger in den vergangenen Jahren hautnah miterleben. EZB-Chef Mario Draghi hat seit 2015 fast 3 Billionen Euro in die Banken gepumpt, um die Inflation in der Eurozone in die Höhe zu treiben. Doch noch immer dümpelt die Kerninflationsrate bei 1,1 Prozent.
Preise steigen nur, wenn die Fabriken ausgelastet sind. Doch in der Eurozone sind viele Kapazitäten noch immer ungenutzt, und die Betriebe liefern sich eher Rabattschlachten. Erst wenn es dem eFin gelungen wäre, die Wirtschaft in der Eurozone anzukurbeln, würde auch die Inflation ein bisschen zunehmen. Dies wäre sogar erwünscht: Dann könnte die EZB endlich ihre Leitzinsen wieder anheben, die derzeit bei null liegen.
Bleibt noch eine zweite Frage: Wer bestimmt eigentlich, wie viele Eurobonds das eFin in Umlauf bringen darf – und was genau es damit finanziert? Der französische Ökonom Thomas Piketty hat vorgeschlagen, ein Euro-Parlament aufzubauen, das rund hundert Mitglieder haben soll. Die Länder würden je nach Einwohnerzahl repräsentiert, wobei auch Ministaaten wie Malta oder Zypern mindestens einen Abgeordneten schicken dürften.
Wahl zwischen Verarmung und Auswanderung
Ein Euro-Parlament würde die Eurozone demokratisieren, denn bisher entscheiden oft Gremien wie die Eurogruppe. Sie sind in den europäischen Verträgen gar nicht vorgesehen, haben aber Millionen Europäer in Armut gestürzt.
Wird die Eurozone nicht reformiert, können die Menschen an der Peripherie Europas nur noch zwischen Verarmung und Auswanderung wählen. Diese Erkenntnis ist bei den Betroffenen längst angekommen, Italien arbeitet bereits an einem Plan B. Bisher ist Deutschland der größte Profiteur des Euros. Die Bundesregierung muss sich bewegen, wenn es nicht zum Crash kommen soll.
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