Essay Flucht und Gewalt in Deutschland: Worauf wartet der Außenminister?

Fluchtursachen gibt es viele. Der Umgang damit war und ist oft skandalös. Auch die heutige Flüchtlingspolitik trägt teils menschenverachtende Züge.

Geflüchtete auf einem völlig überfüllten Schlauchboot, daneben ein kleineres Schlauchboot mit Seenothelfern

Ein Schlauchboot der „Alan Kurdi“ neben einem Flüchtlingsboot Foto: dpa

Außenminister Maas hat sich mit deutlichen Worten hinter Carola Rackete gestellt, die Sea-Watch-Kapitänin, die mit 40 Menschen an Bord gegen den Willen der italienischen Regierung, hier insbesondere des Hardliners Salvini, die aus dem Meer Geretteten an Land absetzte und sich nun vor einem italienischen Gericht verantworten muss. Ich fühle mich daran erinnert, wie die Bild-Zeitung einst titelte, „Wir sind Papst“, als der Deutsche Joseph Ratzinger, Benedikt XVI., gewählt wurde. Jetzt sind wir „Rackete“. Das ist natürlich gut, das ist fast so wie 2015, als die Menschen mit Blumen die ankommenden syrischen Flüchtlinge begrüßten. Viele Menschen spendeten Geld zur Unterstützung des juristischen Verfahrens, das in Italien gegen Carola Rackete angestrengt wird. Wir sind die Guten.

Es ist eine brüchige und wahrscheinlich kurzlebige Allianz, die sich hier zur Unterstützung der „Unsrigen“ bildet. Unvergessen sind die täglich markigen Worte des Innenminister Seehofer gegen geflüchtete Menschen, deren Abschiebung in angeblich sichere Länder und die Stigmatisierung der Inanspruchnahme des Asylrechts, als handele es sich um einen Straftatbestand.

Dem Kurs der Rücknahme von Asylrechtspositionen entsprach die Konzentration auf islamistische Straftäter, Gefährder und was da sonst noch an fragwürdiger Begrifflichkeit bemüht wurde, um Recht gegen das vermeintlich „Fremde“ zu schaffen, bis hin zur Änderung des Einbürgerungsanspruchs im Staatsangehörigkeitsgesetz, sodass von den Einzubürgernden nunmehr nicht nur ihre Rechtschaffenheit, sondern auch ihre „Einordnung in die deutschen Lebensverhältnisse“ zu verlangen sei. Es bestünden demnach also auch „undeutsche“ Lebensverhältnisse, die dem Erwerb des Personalausweises … wie prüft der Beamte/die Beamtin die deutschen Lebensverhältnisse?

Jetzt hat sich die Stadt Rottenburg gemeldet. Sie will die Geretteten aufnehmen. Walter Lübcke, der Regierungspräsident von Kassel, der am 2. Juni dieses Jahres ermordet wurde, hatte seinerzeit nichts anderes gemacht. Er war der Verpflichtung nachgekommen, sich um Schutz suchende Menschen zu kümmern, die ins Land gekommen waren, die geflohen waren vor Diktatur und Bürgerkrieg. In diesem Zusammenhang hatte er offenbar die Gefühle der Rechtsextremisten verletzt, als er davon sprach, wer mit solchen Wertvorstellungen nicht übereinstimme, dem sei es unbenommen, Deutschland zu verlassen.

Ideologische Zündeleien

Das ließen sie sich nicht sagen, denn sie sagen täglich in der Sprache tödlicher Gewalt, wer ihrer Meinung nach nicht zu Deutschland gehört. Die Liste der Getöteten rechter Gewalt ist lang und länger, als es die staatlichen Behörden zugeben. Bisher haben diese Ermordeten kaum einen Platz im öffentlichen Gedenken gefunden, außer dem Raum, den zivilgesellschaftliche antifaschistische Initiativen immer wieder dafür reklamieren. Wenn es gelingt, diese Räume zu behaupten, dann häufig eben doch nur temporär. Marwa El-Sherbini, die vor zehn Jahren, am 1. Juli 2009 im Gerichtssaal in Dresden von einem Rechtsextremisten ermordet wurde, ist einer der Menschen auf dieser langen Liste.

Es waren Journalist*innen und Initiativen, die ab den 90er Jahren begannen, hier selbstständig zu recherchieren und die diese Liste fortschreiben. Die Pogrome Anfang der neunziger Jahre in Rostock-Lichtenhagen, Hoyerswerda und an anderen Orten gegen geflüchtete Menschen und das Anzünden ihrer Unterkünfte waren straffrei geblieben. Ideologisch gezündelt haben damals wie heute nicht nur Leute wie der rassistische Salvini, Björn Höcke oder Alexander Gauland, sondern auch die Distinguierten, die, die mit der Waffe ihrer Eloquenz und Intellektualität Sätze verteilten, die wie Spieße im demokratischen Selbstverständnis stecken blieben.

So hatte der Schriftsteller und Friedenspreisträger des Deutschen Buchhandels Martin Walser die Berichterstattung über die Pogrome gegen die Asylsuchenden als angeblich aufreißerisch moniert, und das war es, was den Dichter umtrieb. Das eigentlich empörende Ereignis verschwand hinter einem behaupteten Sekundärphänomen. Und – fuhr der Dichter fort: „Ich verschließe mich Übeln, an deren Behebung ich nicht mitwirken kann. Ich habe lernen müssen, wegzuschauen.“

Verfolgung bis zum Tod

In diesen Tagen reist die Kindertransport-Association, eine Gruppe von jüdischen Menschen, durch Europa. Vier ihrer Mitglieder sind betagt, über achtzigjährig. Sie waren auf die Kindertransporte geschickt worden, ihre Eltern schrieben herzzerreißende Briefe an die ins Ungewisse geschickten Kinder, unbegleitete kleine Kinder, größere Kinder, Einzelkinder, Geschwister.

Zehntausende wurden in einer einmaligen Rettungsaktion, die seinerzeit nur die Briten unterstützten, vor der Ermordung durch die Nazis gerettet. Sie kommen jetzt in Begleitung ihrer Familien, der zweiten und dritten Generation, zurück, um ihre Reise noch einmal nachzuvollziehen und um derer zu gedenken, die nicht entkamen. Damals vor 80 Jahren. Ihre Stationen sind Wien, Berlin, Amsterdam, Hoek van Holland, Harwich, London.

Man möchte aufatmen, wenn man mit ihnen zusammentrifft. Einfach weil sie leben, weil sie am Leben Gebliebene sind. So wie einmal ein Archivar in Berlin zu mir sagte, da bin ich aber froh. Er hatte mir die Akten meiner Großeltern gezeigt, auf denen das Kürzel SM – „Sondermaßnahme“ – und eine Nummer vermerkt waren. Damit wurde bezeichnet, dass sie zur Deportation und Ermordung vorgesehen waren. Ihre Namen waren in der Liste der ermordeten jüdischen Bürger*innen aufgeführt. Aber meine Großeltern waren nicht ermordet worden wie die anderen, sondern hatten überlebt. Oh, sagte der Herr, dann vermerke ich das, dass kommt nicht oft vor, dass ich die Liste korrigieren kann.

Die Kinder wurden auf die Flucht geschickt, weil sie jüdische Kinder waren und rassistische Verfolgung bis zum Tod das Schicksal war, das ihnen durch den nationalsozialistischen Staat angekündigt war. Mehr als siebzig Jahre nach dem Ende der nationalsozialistischen Diktatur findet rassistische Verfolgung bis zum Tod in Deutschland von Staats wegen nicht statt. Aber wir haben eine Liste von rassistisch Ermordeten.

Bodenlose Vorgänge

Für diese Verbrechen verantwortlich ist ein selbst organisiertes Netzwerk. Der Verfassungsschutzbericht spricht von etwa 24.000 Rechtsextremisten, davon etwa 12.100 gewaltbereiten Rechtsextremisten. Die Getöteten des NSU sind ihre Opfer gewesen. Immer wieder haben die Anwälte und Familienmitglieder der Nebenkläger im NSU-Prozess, der 2018 beendet wurde, darauf hingewiesen, dass sie noch immer nicht wissen, warum ihre Lieben getötet wurden und wer dabei Helfershelfer war, sie als Ziele auszusuchen. Immer wieder wurde gefordert, die Ermittlungen auszuweiten und das Netzwerk zu untersuchen.

Das ZDF hatte die sogenannte Todesliste oder 10.000er-Liste bekannt gemacht, gefunden im Jahr 2011 im Brandschutt in Zwickau, nachdem die 2018 verurteilte NSU-Täterin Beate Zschäpe das Haus angezündet hatte. Walter Lübckes Name und Adresse waren in der Zieldatensammlung des NSU verzeichnet. Andere Namen und Institutionen sind ebenfalls hier zu finden. Nachdem das sog. NSU-Trio nicht mehr aktionsfähig war und dessen zwei weitere Mitglieder tot aufgefunden worden waren, starben zwischen 2012 und 2017 weitere Menschen an den Folgen rassistisch und rechtsextrem motivierter Gewalttaten.

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In Frankfurt am Main wurde Seda Başay-Yıldız, die die Familie des NSU-Opfers Enver Şimşek vor Gericht vertreten hatte, monatelang mit dem Tode bedroht. Başay-Yıldız sagte: „Aus Sicht von Minderheiten ist es natürlich auch bitter, dass neun Opfer mit Migrationshintergrund und 438 Prozess­tage nicht den Anlass gegeben haben, eine solche Debatte anzustoßen. Offensichtlich ist uns dies nicht gelungen, weil es sich um migrantische Opfer gehandelt hat.“ Es steht nicht mehr nur zu befürchten, dass Täter weiterhin frei herumlaufen und Straftaten begehen. Sie begehen sie. Es geht dabei auch um die Frage, inwieweit staatliche Institutionen daran Anteil haben.

Die Vorgänge in der hessischen Polizei sind offenbar bodenlos, und die Aufhebung der Akteneinsichtssperre wäre jetzt das Mindeste, was getan werden müsste. Die Untersuchung von Ermittlungs-, Verfassungsschutz- und anderer affiner Behörden steht aus, und zwar durch eine unabhängige Kommission. Was wird hier weiterhin verschlossen? In den NSU-Akten kommt der Name des mutmaßlichen Mörders von Walter Lübcke vor. Die Ermittlungen müssen nicht gegen einen Einzeltäter, sondern gegenüber einem Netzwerk geführt werden. Worauf warteten die Behörden und die politisch Verantwortlichen seit 2011?

Was hat das mit Regierungshandeln zu tun?

Außenminister Heiko Maas hatte als Antwort auf die Ermordung Walter Lübckes Demonstrationen gefordert. Nach der Festnahme von Carola Rackete hörten wir von der „Rettung von Menschenleben als humanitäre Verpflichtung“. Was haben diese Sätze mit Regierungshandeln zu tun? Worauf wartet der Außenminister? Darauf, dass er sich mit Orbán und Salvini auf ein europäisches Asylrecht einigt? Währenddessen kommen Tausende auf dem Balkan nicht weiter und sitzen vor den Grenzen fest. Libyen ist derart gefährlich für Flüchtlinge, dass der UNHCR Menschen nach Niger ausfliegen ließ.

Ein Flüchtlingslager in der Nähe von Tripolis wurde vor wenigen Tagen von einer Bombe getroffen. Vielleicht gibt es dazu auch eine Verlautbarung, eine mundvolle Erklärung. Heiko Maas könnte sich darum kümmern, dass unbegleiteten Minderjährigen das Recht auf Eltern zugestanden wird, wie es ein Urteil des Europäischen Gerichtshofes vorsieht, aber von seinem Haus werden weiter Ablehnungsbescheide verteilt. Da hätten dann Wertevorstellungen eine Konkretion.

Darin müsste sich Regierungshandeln unterscheiden wollen von denen, die als politische Ausleger der Rechten und Rechtsextremisten vor ihren Schreibtischen und in Parlamenten sitzen, Anträge stellen, um als Parlamentsvorführer Presse und Fans zu machen, politische Feinde mit bürokratischen Mitteln zu überziehen, den Untergang zu prophezeien, Muslime zu denunzieren oder Gutmenschen, die Leben retten und nicht wegschauen.

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schreibt Prosa, Lyrik, Essays und ist Theater- und Hörspielautorin. Sie erhielt 2009 den Erich-Fried-Preis. Mit Werken wie „Joëmis Tisch. Eine jüdische Geschichte“, wurde sie als Vertreterin der sogenannten jüngeren jüdischen Literatur bekannt.

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