piwik no script img

Essay „After Woke“ von Jens BalzerJenseits manichäischer Weltbilder

Der Autor Jens Balzer möchte die „Wokeness“ vor ihren eigenen Ver­tre­te­r:in­nen retten. Ziel ist ein respektvoller Austausch zwischen Menschen.

Für Balzer beginnt „Wokeness“ mit dem US-amerikanischen Folk- und Bluessänger Lead Belly Foto: Lebracht Music Arts/Bridgeman

Wie kann es sein, dass Menschen, die sich selbst als Prot­ago­nis­t:in­nen der politischen Emanzipation verstehen, keinerlei Mitgefühl haben mit den Opfern eines Massakers durch islamofaschistische Terroristen? Eines Massakers, bei dem die „lachenden Täter“ (Klaus Theweleit) Zi­vi­lis­t:in­nen als Todfeinde vernichten, demütigen und entmenschlichen wollten. Gerade auch durch gezielt eingesetzte sexualisierte Gewalt.

Für viele Kom­men­ta­to­r:in­nen machte die Zeit nach dem 7. Oktober 2023 ein für allemal deutlich, wie moralisch bankrott große Teile der Linken weltweit sind. Das selektive, laute Schweigen, die bizarren Verharmlosungen oder gar offenen Glorifizierungen reaktionärer Gewalt haben eine unrühmliche Tradition und eine lange Geschichte. Eine zentrale Frage ist jedoch: Wie weiter, wenn man sich von progressiven Idealen nicht verabschieden will?

Mit „After Woke“ hat Jens Balzer nun einen Essay veröffentlicht, der die Heuchelei und Doppelmoral in Bezug auf Israel und den 7. Oktober deutlich benennt. Balzer ist darüber irritiert, wütend und auch gekränkt. Doch im Gegensatz zu vielen Kol­le­g:in­nen bleibt der Publizist nicht beim Bashing linker Antisemiten stehen, sondern fragt nach Impulsen aus dem Kosmos „woker“ Ideen, die aktuellen Tendenzen des Diskurses entgegenstehen.

In seinem Vorgehen erinnert das an Balzers Essay „Ethik der Appropriation“ (2022), der sich kritisch und produktiv mit dem Kampfbegriff der kulturellen Aneignung und damit verbundenen Phänomenen auseinandersetzt. Insgesamt möchte Balzer die „Wokeness“ vor ihren eigenen Ver­tre­te­r:in­nen retten und dem entgegenwirken, was sich aktuell auch im selbsterklärt progressiven Milieu beobachten lässt: manichäische Weltdeutungen und Dogmatismus, identitäres Denken, Selbstgerechtigkeit und mangelnde Bereitschaft zur Selbstreflexion.

Das Buch

Jens Balzer: „After Woke“. Matthes & Seitz Berlin 2024, 105 Seiten, 12 Euro

Den Anfang des Begriffs „woke“ findet Balzer im Jahr 1938. Der US-amerikanische Folk- und Bluessänger Lead Belly sang damals: „So I advise everybody, be a little careful – best stay woke, keep their eyes open.“ Bei Lead Bellys Text handelt es sich um die Aufforderung an rassistisch Diskriminierte, durch besondere Wachsamkeit ihr nacktes Überleben zu sichern. Inzwischen ist der Begriff „woke“ Teil der Schwarzen Vernakularsprache und entwickelte sich zu einem geflügelten Wort, das mitunter auch ironisch für Weiße verwendet wird.

In Austausch mit anderen bleiben

Bei Erykah Badu findet Balzer eine weitere für gegenwärtige Debatten relevante Verwendung des Begriffs. Badus Song „Master Teacher“ von 2008 sei, so Balzer, „nichts anderes als die Maxime der gesellschaftlichen Verständigung in einer liberalen Demokratie.“ Ein wokes Verständnis der Welt bedeute für Badu: in kontinuierlichem Austausch mit anderen zu bleiben, deren Ansichten aber nicht ungeprüft zu übernehmen sowie die eigenen Ansichten einer stetigen Selbstkritik zu unterziehen, auch um möglichen eigenen biases entgegenzuwirken.

„Wokeness“ im ureigentlichen Sinn begreift Balzer im Rückgriff auf Jürgen Habermas als „Verfahren“ und als „Infrastruktur“, das die „notwendigen Voraussetzungen kommunikativen Handelns“ schaffe und eine respektvolle Auseinandersetzung zwischen Menschen mit unterschiedlichen Biografien, Erfahrungshintergründen, Positionen in der Gesellschaft ermögliche. Am Ende dieser idealen Kommunikationssituation sei dann tatsächlich der „eigentümlich zwanglose Zwang des besseren Arguments“ ausschlaggebend.

Der für eine solche Kommunikationssituation nötigen Selbstreflexion stehe aktuell allerdings unter anderem eine Faszination für Ideen von Ursprünglichkeit und Authentizität entgegen. Als Objekte für die projektive Fetischisierung „des Indigenen“ dienen dabei unter anderem die Palästinenser:innen, die – unter Auslassung der langen jüdischen Geschichte im Land und in der gesamten Region – als Repräsentanten eines geschichtlichen und kulturellen Urzustandes gelten.

Dessen Rückeroberung müsse Ziel postkolonialer Politik sein. Palästinensische Agency wird durch diese Prämissen systematisch negiert.

Waches Auge für Antisemitismus

Balzer macht in seinem Essay zudem deutlich: Ver­tre­te­r:in­nen postkolonialer Ansätze können durchaus ein waches Auge für Antisemitismus selbst unter den „Verdammten dieser Erde“ haben und sich klug gegen identitäres Denken positionieren.

Hierfür bezieht sich Balzer vor allem auf Autoren wie Henry Louis Gates Jr., Stuart Hall und Paul Gilroy. Deren Texte sollten unbedingt wieder mehr gelesen und diskutiert werden – und das nicht nur, um zu zeigen, dass postkoloniale Ansätze keine monolithische Theorie bilden, die allein für den moralischen Bankrott vieler Linken verantwortlich gemacht werden könnte.

Indirekt verweist Balzer in diesem Zusammenhang auf eine zentrale Leerstelle seines Essays: Wenn die starke Verbreitung von manichäischen Weltdeutungen, Dogmatismus und identitärem Denken unter vermeintlich Progressiven sich nicht auf umfassende Lektüreerfahrungen oder einen ursprünglichen, schlechten Kern von „Wokeness“ zurückführen lassen – dann müssen da andere Kräfte und Dynamiken am Werk sein. „After Woke“ wird nicht das letzte Buch zum Thema bleiben.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen

Mehr zum Thema

13 Kommentare

 / 
Kommentarpause ab 30. Dezember 2024

Wir machen Silvesterpause und schließen ab Montag die Kommentarfunktion für ein paar Tage.
  • Ich habe den Essay von Balzer etwa zur Hälfte gelesen, gleich zu Beginn ist mir übel aufgestoßen, dass er im Kontext des Massakers der Hamas von "Atentäter*innen" sprach.

    Absurd in diesem Zusammenhang. Um den zwei, drei Mörderinnen, die da dabei waren, gerecht zu werden, so ein Theater.

    Na ja. Gut fand ich die historische Herleitung des Begriffes "woke" und vor allem, dass er in der afro-amerikanischen Community nicht stumpfsinnig ausschließend, wie bei der Mehrheit der aktuellen Post-Kolonialen üblich verwendet wurde, sondern dynamisch, aufgeweckt eben.

    Die Schwarzen waren nicht sauer, wenn Weiß sich ihre Begrifflichkeiten entlehnten, was heute als kulturelle Aneignung diffamiert wird, sondern erfanden eben schelmisch neue.

    Wach bleiben eben, aufpassen, reagieren, neu machen. Das hat rein gar nichts mit dem hermetischen, völkischen Irrsinn von heute zu tun.

    Ob er die Ehre des "Woken" wirklich retten kann, weiß ich noch nicht.

    Jedenfalls, ein gutes und lesenswertes Buch.

    Stay woke.

  • Ich finde diese ganze Diskussion um den Begriff lächerlich. Niemand von denen die damit gemeint sind benutzt ihn oder bezeichnet sich selbst als woke. Habe ich noch nie gehört obwohl ich einige POC- und Queeraktivisten kenne und auch auf deren Veranstaltungen war. Das ist mittlerweile nur noch ein schwammiger Kampfbegriff von Rechten , Konservativen und auch einigen Linken. Wenn jemand davon anfängt weiß man das nix positives kommt.

  • Es wird gefühlt, es wird sich zu Identitäten zugeordnet, es wird sich empört..., und das alles schnell.



    Es wird nicht mehr viel gedacht, nachgedacht, kritisch hinterfragt - denn das dauert lange.



    Wenn ich jeden Menschen in seiner Würde selbstverständlich achte, brauche ich keine weiteren Begriffe.

  • Widersprüchlich ist es schon, Essentialismus ("manichäische Weltdeutungen und Dogmatismus, identitäres Denken, Selbstgerechtigkeit und mangelnde Bereitschaft zur Selbstreflexion") zu beklagen und dann wie Till Schmidt einen "ureigentlichen Sinn" von "Wokeness" zu konstruieren.



    Wünschenswert wäre es, die Leerstelle, von Balzers Essay in diesem Zusammenhang genauer zu untersuchen und den Jargon der Eigentlichkeit, den zumindest Schmidt hier einbringt, zu dekonstruieren.



    Wie schreibt sich die Gewalt kapitalistischer Produktionsverhältnisse in Konzepte von "Wokeness" ein? Was könnte "Wokeness" etwa in einer freiheitlich sozialistischen Demokratie sein (die, weil sie sozialistisch wäre, keine liberale Demokratie wäre)? Wie könnte "Wokeness" helfen, einen Übergang von der einen zur anderen Demokratie zumindest denkbar zu machen?

  • Ich bin immernoch woke, weil ich sonst vor rechten Idioten klein beigeben muss.

    Die immer gewettert haben, Wokeness sei kacke. Und dann soll ich mir das gefallen lassen? Mir vor DENEN sagen lassen: "Sieh an wer da angekrochen kommt!" Oder dann kommen hämische Kommentare wie "Hab ich doch gesagt!"

    Das wäre eine echte Schande, für all das, wofür ich mit Wokeness gekämpft habe und für benachteiligte Menschen mich eingesetzt habe. Für Transpersonen, für Flüchtlinge, für ge(cyber)mobbte Opfer.

    Nicht einmal der 7. Oktober wird mir meine Wokeness wegnehmen. Dann werde ich halt superwoke. Und zwar projüdisch super-woke.

    • @Troll Eulenspiegel:

      Ernstgemeinte Fragen:



      Wäre Ihr Einsatz so auch machbar gewesen, ohne sich als "woke" zu identifizieren?

      Wenn nein: Warum nicht?

      Wenn ja: Wo war für Sie der Unterschied, sich so zu identifizieren?

      • @rero:

        Zunächste setze ich mich schlichtweg radikal für benachteiligte Personen ein. Wie das nun heißt, sei es "woke" oder "Gutmensch" ist technisch gesehen zunächst einmal irrelevant.

        Wie sollen z.B. behinderte Menschen oder auch Sinti*zzi, Rom*nja wohl reagieren, wenn die von mir folgenden Wortwechsel lesen? Wenn rechte Idioten vor zehn Jahren bereits gemeint haben, woke sei bedeppert und ich komme angekrochen und gestehe nach dem 7. Oktober "Ja, da habt ihr Recht..."?

        Die würden mit Enttäuschung reagieren. Wieder eine Seele weniger, der benachteiligte Menschen unterstützt. Während Nazis und Ähnliche sich ins Fäustchen lachen.

        Für sowas habe ich nicht gekämpft. Ich möchte weiterhin mit einem Label "sichtbar" sein, damit benachteiligte Menschen erkennen, dass es noch Menschen gibt, die ihre Existenz und ihre Menschenrechte nicht in Frage stellen.



        Weil das geht sonst nicht, wenn ich farblos und unauffällig handele - ohne Identifikation.

        Also kurz, ja. Die Identifikation erlaubt es, dass immernoch für Menschenrechte gekämpft wird.

        Und weil viele Linke, die technisch gesehen woke sein müssen, leider voll auf Antisemitismus stehen, distanziere ich mich mit "superwoke".

        • @Troll Eulenspiegel:

          Danke für die Antwort.

          Ich lerne gerne andere Sichtweisen kennen.

  • Gut geschriebener Artikel.

    Ein Versuch, den Begriff "Wokeness" zu retten, indem man ihn als Verfahren definiert, muss scheitern.

    Dazu ist er inzwischen viel zu negativ besetzt.

  • Warum nicht das Naheliegende ansprechen: Identitäres Denken und Identitätspolitik sind eigentlich ein und dasselbe. Schön beschrieben wird das Phänomen in Amartya Sens Buch „Die Identitätsfalle“: Wir alle sind unglaublich viel mehr als sich in einer Kategorie mit „innerhalb“ und „außerhalb“ der Gruppe unterscheiden lässt.



    Jeder Versuch, ausschließlich mit nur einer Gruppe über Menschen zu urteilen, führt nahezu zwangsläufig in die gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit, denn das Interesse dahinter ist, einen Teil der Mitmenschen auszuschließen und gegenüber den „eigenen“ eine machtvolle Position, mindestens die Deutungshoheit über Innen und Außen und über Gehalt und Zugang zum Innen, zu gewinnen und zu behaupten.



    Damit wird allen, die innerhalb der Gruppe verortet werden, die Freiheit abgesprochen, die für sie selbst relevanten Kategorien zu wählen und die „eigene“ Kultur mitzubestimmen. Kultur ist nicht statisch, sie besteht im praktischen Vollzug durch sich verändernde, lernende, handelnde, lebendige Personen. Gerade das möchten die reaktionären Profiteure des Status Quo verhindern. Und der Status Quo ist das Patriarchat, wie z.B. bell hooks argumentiert hat: Lesen!

  • Michaela Dudley , Autorin , Journalistin/Kabarettistin

    Was Wokeness betrifft, war der 7. Oktober 2023 eine gravierende Zäsur. Der an dem Tage erfolgte Terrorangriff der Hamas auf Israel beinhaltet den tödlichsten Massenmordanschlag auf das Judentum seit der Schoah. Das horrende Ereignis offenbarte zugleich den moralischen Bankrott der woken Ideologie. Anstatt Solidarität mit den jüdischen Opfern zu zeigen, nutzen viele selbsternannte Progressive seither die Chance, den eigenen Antisemitismus zu entfesseln.

    Wokeness verkümmert sich zu einer dogmatischen Identitätspolitik, welche die eigene Relevanz in der Ausfechtung von Scheinkämpfen und in der Pflege der Scheinheiligkeit sucht. Die Bewegung, die sich einst als antirassistisch und feministisch verstand, reproduziert mittlerweile kolonialistisches und ja patriarchalisches Gedankengut. Der Kufiya tragende White Savior, der gegen Cultural Appropriation geifert, verkörpert unleugbar diese Doppelmoral. Wie auch die Migrantifas, die Inklusion anmahnen und dann mehrere Jüdinnen ausschließen, die gemeinsam mit ihnen gegen Nazis marschieren möchten.

    Sie auch: Dudley, Michaela (12.02.2024). „Es mangelt so an Empathie“, in Taz.de: taz.de/Schwarze-ge...mitismus/!5987233/

    • @Michaela Dudley:

      Ich bin ehrenamtlich seit vielen Jahren in Afrikanischen Vereinen und Verbänden tätig. Ich kenne POC-Aktivisten, migrantische und auch muslimische Queers und bin auch auf deren Veranstaltungen. Denn Begriff Woke höre ich dort nie. Das hört man nur von den Leuten die gegen sie schießen. Die Verwendung sagt mehr über die Geisteshaltung des Benutzers aus, als über die Leute gegen die es gerichtet ist.

    • @Michaela Dudley:

      Vom Hang zur Eigenwerbung einmal abgesehen: ein moralischer Bankrott ist es auch, wenn man sowohl die Besatzungs- und Unterdrückungspolitik vor dem Hamas-Massaker, als auch die menschenverachtende Kriegsführung Israels danach ignoriert. Die Ironie daran ist, dass diejenigen, die hier gegen angebliche „Wokeness“ polemisieren (bisher hat man das ja eher im Umfeld der – vielleicht nicht zufällig – ebenfalls stramm pro-israelischen AfD gehört) selbst der partiellen Empathielosigkeit verfallen, die sie anderen gerne vorhalten (und dabei, ohne es zu merken, wiederum koloniale Denkmuster reproduzieren – ich wüsste wirklich gerne, was man hier über den Sepoy-Aufstand geschrieben hätte. Man nimmt die liberale Demokratie für sich an Anspruch, hat aber kein Problem damit, andere in Bantustans vor sich hinvegetieren zu lassen oder zu Zehntausenden zu ermorden – und hat dabei noch ein unerschütterlich gutes Gewissen… Peter Weiss hat das einmal als Herrenvolk-Demokratie beschrieben.