Sammelband des Kulturtheoretikers Hall: Rassismus als Prisma
„Selected Writings on Race and Difference“ vereint Texte des Soziologen Stuart Hall. Der Band bietet Impulse für die Debatte über Identitätspolitik.
Im Februar 1988 hielt der Soziologe und Kulturtheoretiker Stuart Hall einen kontrovers diskutierten Vortrag auf der Konferenz Black Film, British Cinema in London. Die Ikone der britischen Neuen Linken warnte sein Publikum davor, sich auf naive Weise auf Identitäten als Garantie für progressive Politik zu verlassen. Ein Film, so brachte Hall es mit der ihm eigenen Prägnanz auf den Punkt, sei nicht automatisch gut, nur weil eine schwarze Person ihn gemacht habe, eine politische Idee nicht garantiert richtig, nur weil sie von einer Frau stamme.
Als Gegenprogramm zu solchen vermeintlichen Gewissheiten skizzierte Hall das Projekt einer sogenannten Identitätspolitik zweiten Grades. Sie wisse um die Künstlichkeit jeder Gruppenidentität, hinterfrage sich stetig selbst und bleibe im Fluss, um der Gefahr neuer Festschreibungen zu widerstehen – eine anstrengende, fast unmögliche Form des Aktivismus, ein dauernder Stellungskrieg ohne jede Gewähr, aber auch ohne Alternative, so Hall.
Halls berühmt gewordener Vortrag steht idealtypisch für sein Denken und Schreiben im politischen Handgemenge. Er gehört zu einer Reihe von Texten, die nun im Band „Selected Writings on Race and Difference“ als Teil einer mehrbändigen Edition der Arbeiten Halls neu erscheinen.
Das letzte koloniale Subjekt
Geboren 1932 in Kingston, Jamaika, verstorben 2014 in London, bezeichnete Hall sich in seiner Autobiografie „Vertrauter Fremder“ einmal als „letztes koloniales Subjekt.“ Mit einem Rhodes-Stipendium nach England gekommen, wurde Hall Ende der 1960er Jahre Direktor des Centre for Contemporary Cultural Studies in Birmingham.
Später widmete er sich als Professor an der Open University der Erwachsenenbildung. Hall prägte als Redakteur und Autor die einflussreichen linken Zeitschriften New Left Review und Marxism Today. Seine Einwürfe zu Kultur, Medien, Rassismus, Postkolonialität und Identität machten ihn zu einem der wichtigsten öffentlichen Intellektuellen Großbritanniens.
Als Freund des genauen Arguments ging Stuart Hall mit verbreiteten Gewissheiten innerhalb der Linken ebenso kritisch ins Gericht wie mit allen Formen von Unrecht und Ausgrenzung. Dadurch saß er immer wieder zwischen den Stühlen. Fest im Marxismus verankert, war Hall ein vehementer Kritiker von Stalinismus und marxistischer Orthodoxie.
Von Antonio Gramsci geprägt, betonte er die Bedeutung und relative Autonomie von populärer Alltagskultur gegenüber der angeblich alles bestimmenden ökonomischen Basis. Kultur und Medien waren ihm zentral – aber er warnte davor, sich auf symbolische Kämpfe zu beschränken und die ökonomischen Verhältnisse aus dem Blick zu verlieren.
Ein Lebensthema Halls war auch der Rassismus. Der jetzt auf Englisch publizierte Band „Selected Writings on Race and Difference“ enthält neben kanonischen auch unbekanntere Texte Halls zum Thema aus über 40 Jahren. Sie haben trotz ihres Alters wenig Aktualität verloren.
Im Gegenteil: Halls Argumente hätten in vielerlei Hinsicht das Potenzial, die derzeitige Debatte über Identität, Klasse und Antirassismus gründlich durcheinanderzuwirbeln. Vor allem, weil sich durch Halls Analyse die Einsicht in die Untrennbarkeit und wechselseitige Abhängigkeit der Kategorien Klasse und Race zieht.
Leider stehen die Arbeiten Halls derzeit nicht besonders hoch im Kurs. Nicht nur in aktivistischen Kreisen hierzulande sind Ideen, die auf die Critical Whiteness Studies aus den USA zurückgehen, deutlich verbreiteter. War Gründungsfiguren dieser Richtung wie Theodore W. Allen oder Noel Ignatiev die Klassenfrage noch zentral, gerät sie bei heute populären Adepten wie Robin DiAngelo fast völlig aus dem Blick.
Bestseller wie DiAngelos „White Fragility“ blicken einseitig und reduktionistisch auf weiße und daher angeblich automatisch privilegierte Personen und ihr Verhalten. Ein hierzulande zentrales Phänomen wie der antislawische Rassismus, der zur Legitimierung der Ausbeutung osteuropäischer Arbeitskräfte in der deutschen Pflege, Fleischindustrie oder Landwirtschaft dient, ist mit diesem begrifflichen Werkzeug nicht zu fassen.
Falsche Opposition
Genau hier setzt Halls marxistisch fundierte Rassismusanalyse an. Die derzeit kontrovers diskutierte Frage, ob statt dem Kampf gegen Rassismus der Fokus wieder auf Klasse liegen sollte, fußt, mit Hall gelesen, auf einer falschen Opposition. Den Rassismus begreift Hall als Mechanismus, der es dem Kapital erlaubt, die Klasse der Lohnabhängigen zu dominieren, indem er sie in zwei Gruppen spaltet.
Obwohl die Ausbeutung schwarzer und weißer Lohnabhängiger objektiv ein Effekt von deren Klassenposition sei, erleben beide Gruppen diese Ausbeutung im Modus des Rassismus. Sie grenzen sich von der jeweils anderen Gruppe ab und geben ihr die Schuld für das eigene Schicksal. So sei die arbeitende Klasse daran gehindert, ein Bewusstsein der eigenen Situation zu entwickeln und sich zu organisieren.
Über psychologisierende Ansätze, die den Blick nur auf die durch den Rassismus produzierten Subjekte und ihr Verhalten richten, müsse man hinausgehen, so Hall. Der Rassismus, das hebt auch Paul Gilroy in seiner Einführung zum Band hervor, ist für Hall keine Dimension von Unterdrückung, die sich zu anderen Ausschlüssen einfach addieren lässt.
Angemessen verstehen könne man ihn nur in seinem spezifischen Kontext, weshalb Hall von Rassismen im Plural spricht. Rassismus, so eine zentrale Metapher Halls, funktioniere wie ein Prisma. Er erlaube es Menschen, gesellschaftliche Krisen zu verstehen und zu verarbeiten.
Verschärfungen im Einwanderungsrecht
Eine solche Krise diagnostiziert Hall etwa für das Ende der 1960er Jahre. Den offenen Rassismus, der sich in Großbritannien in der Rhetorik von Enoch Powell artikulierte, sieht Hall als einen Versuch, ökonomische, soziale und politische Krisenphänomene auf karibische und indische Eingewanderte zu schieben. Powell prognostizierte 1968 in einer berüchtigten Rede Ströme von Blut, falls die Migration ins Land nicht bald stoppe.
Der entstehende politische Druck führte zu Verschärfungen im Einwanderungsrecht. Schwarze Eingewanderte wurden zu Trägern und Zeichen der Krise. Weiße Arbeiter fanden in ihnen einen Sündenbock. Für schwarze Arbeiter wurde gleichzeitig der erfahrene Rassismus die primäre Art und Weise, wie sie die eigene Ausbeutung erlebten.
Auch als engagierter Pädagoge tritt Hall im Band auf. In einem Vortrag aus dem Jahr 1980 richtet er sich an Lehrende, die das Thema Rassismus im Schulunterricht behandeln. Man müsse, so Hall, ein Klassenzimmer schaffen, das es allen erlaube, auch unpopuläre Gedanken auszusprechen. Kontraproduktiv sei es dagegen, eine so klar antirassistische Atmosphäre zu forcieren, dass der alltägliche Rassismus, der uns alle umgibt, unter den Teppich gekehrt werde.
Auch wenn er schwer zu ertragen sei, der real existierende Rassismus müsse sich artikulieren können. Denn was nicht ausgesprochen werde, könne auch nicht analysiert werden.