Eskalation in Nahost: Irans Luftnummer
Das Raketenarsenal des Iran geht langsam zur Neige. Es setzt auf Kamikazedrohnen und unterirdischen Atomanlagen.

Zerstörte Wohnblöcke, Dutzende Tote. Die Vergeltungsschläge des Iran am Wochenende für die Angriffe Israels auf die militärische Infrastruktur des Landes waren erbarmungslos. Eigentlich hatte Israel bereits im vergangenen Jahr die iranische Luftabwehr und iranische Waffenarsenale durch gezielte Luftschläge stark dezimiert. Dass Iran jetzt dennoch über eine solche Schlagkraft verfügte, war daher für manche eine Überraschung. Die Gegenschläge wären vermutlich sogar noch viel massiver ausgefallen, wenn der Mossad nicht das Regime infiltriert und einiges verhindert hätte.
Was in Israel Angst und Schrecken verbreitete, sorgte in den umliegenden arabischen Staaten für Schadenfreude. Ein Iraker mit Verbindungen zur irakischen Regierung schrieb auf einem Messenger-Dienst: „Seit Jahrzehnten trichtern uns Politiker und Medien ein, dass Israel unantastbar sei. Jetzt sehen wir, dass auch Israel verwundbar ist. Das allein ist für uns ein Grund zum Feiern.“
Wie lange Irans Gegenwehr noch anhält, ist indes fraglich. Die weitaus größte Bedrohung für Israel geht aktuell von Irans ballistischen Raketen aus. Deren Arsenal ist zwar das größte im gesamten Nahen Osten – ist aber doch begrenzt.
Ein Vergleich des Militärs der beiden Länder fällt zahlenmäßig – zumindest auf den ersten Blick – zugunsten des Iran aus: Das reguläre iranische Heer zählt 600.000 Männer – im Vergleich zu 170.000 aktiven israelischen Soldaten.
Invasion mit Bodentruppen hat wenig Erfolgsaussicht
Dazu kommen im Iran noch rund 200.000 Revolutionsgardisten, eine paramilitärische Truppe, die weit besser ausgestattet ist als das reguläre Heer. Den Revolutionsgarden unterstehen außerdem die sogenannten Basidschi, eine zumindest in Teilen stark indoktrinierte Freiwilligenmiliz, deren genaue Mitgliederzahl nicht bekannt ist, aber in Millionenhöhe gehen dürfte. Eine Invasion des Iran durch Bodentruppen hätte daher wenig Aussichten auf Erfolg.
Anders stehen die Verhältnisse in der Luft: Die veraltete Fliegerflotte des Iran ist sowohl zahlenmäßig als auch qualitativ weit unterlegen. Ein entscheidender Faktor für den Ausgang des aktuellen Luftkriegs sind aber vor allem die Raketen- und Drohnenarsenale. Was die iranischen Raketen so gefährlich macht: Wenn Teheran Dutzende oder gar Hunderte auf einmal abfeuert, kann das die israelische Luftabwehr überlasten.
Auch in den vergangenen Tagen hätten laut israelischer Armee fünf bis zehn Prozent der iranischen Raketen die verschiedenen Abwehrsysteme durchbrochen. Dabei ist jede Rakete mit mehreren Hundert Kilogramm Sprengstoff bestückt und kann bei einem Einschlag ganze Gebäudekomplexe zerstören.
Neben der Eliminierung des iranischen Atomprogramms nennt die israelische Regierung die Zerstörung des Raketenprogramms daher als zweites Ziel ihrer Militäroperation „Rising Lion“. In einer Videoerklärung am Freitagabend sagte Ministerpräsident Benjamin Netanjahu, der Iran strebe die Herstellung von 300 ballistischen Raketen pro Monat an, was nach sechs Jahren eine Gesamtzahl von 20.000 Raketen bedeute.
Mit jedem Kriegstag schrumpfen die Bestände
Im Augenblick sind die iranischen Arsenale davon weit entfernt. Nach Schätzungen israelischer Militärexperten verfügte Iran zu Beginn der Eskalation über rund 2.000 Raketen. Und mit jedem weiteren Kriegstag schrumpfen die Bestände weiter: Allein am 14. Juni, am Tag nach Israels erster Angriffswelle, feuerte das iranische Militär 200 solcher Raketen auf Israel ab.
Man kann sich ausrechnen, dass es nicht lange dauern dürfte, bis der Iran seine Raketen aufgebraucht hat, wenn er mit diesem Tempo weitermacht. Hinzu kommen die Verluste durch israelische Luftschläge. So vermutet die Denkfabrik „Institute For The Study Of War“ (ISW), dass der Iran nicht mal eine Woche nach Beginn der Eskalation schon zwischen einem Drittel und der Hälfte aller Raketen verschossen haben könnte.
Angesichts dessen verwundert es nicht, dass Irans Raketensalven in den vergangenen Tagen mit jedem weiteren Angriff schwächer wurden. Am Sonntag waren es laut dem Jewish Institute of National Security of America noch 105 iranische Raketen und am Montag nur noch 65 Raketen pro Tag.
Laut dem israelischen Militärsprecher Effie Defrin hat dies auch damit zu tun, dass die israelische Luftwaffe bereits ein Drittel der iranischen Raketenwerfer zerstört habe. Jeder Werfer hätte im Laufe des aktuellen Krieges Dutzende von Raketen abfeuern können. Nun habe die Islamische Republik am Montag nur etwa die Hälfte der geplanten Raketen abfeuern können, sagte Defrin.
Solche Informationen beruhen auf israelischen Schätzungen. Dabei ist jedoch nicht ausgeschlossen, dass das iranische Regime noch zu Überraschungen in der Lage sein könnte. Beispielsweise zeigen einige Aufnahmen, die das israelische Militär am Samstag veröffentlicht hatte, mindestens einen Raketentyp, den der Iran zuvor noch nie auf Israel abgefeuert hatte.
Bei der Rakete mit dem Namen „Shahed Haj Qassem“ handelt es sich laut dem Militärexperten Tal Inbar um eine Feststoffrakete, die vor dem Start nicht betankt werden muss, was bedeutet, dass sie jahrelang unterirdisch gelagert werden kann und innerhalb von Minuten einsatzbereit ist.
Schon seit Freitag hat der Iran zudem verschiedene Arten von Drohnen eingesetzt, die laut Kiumars Heydari, Kommandeur der iranischen Bodenstreitkräfte, mit „präzisen Zerstörungs- und Zielfähigkeiten ausgestattet sind“ und „strategische Positionen“ in Tel Aviv und Haifa zerstört hätten.
Iran hat Drohnen kontinuerlich modernisiert
In den vergangenen Jahren hatte Iran seine Drohnenflotte immer weiter ausgestattet und modernisiert. Symbolisch dafür sind die „Schahed“-Kamikazedrohnen, die Iran seit Russlands Überfall auf die Ukraine 2022 in großer Zahl an den Kreml verkauft hat. Der Einsatz solcher Kamikazedrohnen soll nun auch im Kampf gegen Israel intensiviert werden, sagte Heydari laut der staatlichen Nachrichtenagentur Irna am Dienstag.
Iranische Drohnen könnten den Abnutzungskrieg mit Israel selbst dann verlängern, wenn seine Raketenarsenale verbraucht sind. Und das kann für Israel zum Problem werden, denn auch dessen Abwehrkapazitäten gehen zur Neige. Die Zeit, die die Islamische Republik dadurch gewinnen könnte, braucht sie dringend – nicht nur, um sich nach der Dezimierung ihrer militärischen Elite personell und strategisch neu aufzustellen, sondern vermutlich auch, um mit Hochdruck die Atombombe zu bauen.
Erst dann hätte das Regime auch ohne ballistische Raketen wieder eine ausreichend hohe militärische Abschreckung, um sich vor weiteren feindlichen Interventionen zu schützen und in künftigen Verhandlungen mit Israel und den USA wieder an einem längeren Hebel zu sitzen.
Dass der Iran Nuklearwaffen produziert, ist theoretisch weiterhin denkbar. Denn die Zerstörung des iranischen Atomprogramms – sein erklärtes Kriegsziel – hat Israel noch nicht erreicht. Zwar wurden die oberirdischen Anlagen in Natans und Isfahan durch bisherige Angriffe schwer beschädigt, doch das eigentliche Herzstück des iranischen Atomprogramms ist die unterirdische Anlage in Fordo. Und die scheint, genauso wie die unterirdischen Teile der Nuklearanlagen in Natans, weiterhin intakt zu sein.
Um so weit unter die Erde zu dringen und das Atomprogramm vollständig zu zerstören, fehlen Israel die notwendigen bunkerbrechenden Bomben. Nun hängt alles davon ab, ob die USA einspringen und Israel noch rechtzeitig zu seinem Erreichen seines Kriegsziels verhelfen werden. Zum derzeitigen Zeitpunkt erscheint dieses Szenario zumindest immer wahrscheinlicher.
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