Erzieher über Haasenburg-Heime: „Die Jugendlichen müssen böse sein“

Zwei Erzieher, die in den Heimen der Haasenburg gearbeitet haben, erzählen. Das System beruhte auf der Brechung der Persönlichkeit.

Gelb gestrichene Baracken stehen hinter einem Zaun

Inzwischen nicht mehr in Betrieb: das Haasenburg-Heim Neuendorf südöstlich von Berlin Foto: Mic­ha­el Jungblut

taz: Herr Breitung, Herr Schmitz, Sie waren Erzieher in Heimen der Hasenburg. War es richtig, diese Heime 2013 zu schließen?

Bernd Schmitz*: Es war überfällig. Als ich 2013 den Bericht der Haasenburg-Kommission las, dachte ich: Gott sei Dank, das ist jetzt alles niedergelegt. Aber im Grunde fand ich auf jeder zehnten Seite wieder, was ich sieben Jahre früher schon der Heimaufsicht geschrieben hatte. Bedauerlich, dass so viele Kinder und Jugendliche ihre Zeit dort noch verbringen mussten.

Alexander Breitung 62, ist Sozialpädagoge und lebt und arbeitet in Berlin. Seine Haasenburg-Zeit hielt er in einem unveröffentlichten Buch fest.

Bernd Schmitz* 53, heißt in Wirklichkeit anders. Er ist Erziehungswissenschaftler und bildet heute in Südbrandenburg Erzieher aus

Herr Breitung, Sie haben über Ihre Hospitanten-Zeit im Heim Neuendorf ein unveröffentlichtes Buch geschrieben. Darin beschreiben Sie, wie ein Junge bestraft wird: „Er hat widersprochen“, sagt ein Betreuer durch sein Walkie-Talkie. Darum solle der Junge keine Tagesbelohnung bekommen. Und die Vorgesetzte antwortet: „Richtig, und denken Sie über eine Rückstufung nach.“ Was dachten Sie da?

Alexander Breitung: Ich war zunächst irritiert über diese Funkgeräte. Das kannte ich aus dem Film, aber nicht aus der Jugendhilfe. Da dachte ich über das Gehörte noch nicht nach.

Aber Sie schrieben es auf?

Breitung: Ja. Ich notierte mir das erst mal. Das Buch schrieb ich erst nach meiner Haasenburg-Zeit. Und da merkte ich, wie verrückt die Szenerie war.

Herr Schmitz, Strafe, weil ein Junge widerspricht – gab es das im Heim Jessern auch?

Schmitz: Das Wort „Strafe“ wurde vermieden. Das Siegel darüber hieß „Verhaltenstherapie“. Ich hatte Erziehungswissenschaften studiert und rutschte da völlig unbeleckt rein. Ich nahm solche Sachen erst mal mit Erstaunen zur Kenntnis. Aha! So läuft das also in einer Einrichtung!

Wie alt waren Sie da?

Schmitz: 35, ich habe lange studiert.

Breitung: Ich Anfang 40.

Schmitz: Es gab da ein Belohnungs- und Verstärkungssystem. Dazu gehörte die „negative Verstärkung“, die aber nicht Strafe heißen sollte. Es war genau festgelegt, wer wann, was, wie, wo zu tun hat. Und lief alles nach Plan, gab es den „Chip“ als Verstärkung. Den konnte man für etwas einlösen, hatte man genug gesammelt. Und wenn nicht, dann gab es eben was Negatives: Sprich, ich nehme dir was Schönes weg.

Aber wurde den Jugendlichen auferlegt, nicht zu widersprechen?

Schmitz: Ging man zu einem Jugendlichen und sagte: „Du hast deinen Dienst noch nicht gemacht. Du musst dein Zimmer bis 18 Uhr aufräumen“, und er sagte, „Mache ich nicht“, dann war das ein Widerspruch, wo eine Regel nicht eingehalten wurde. Dann waren wir verpflichtet, den Chip an diesem Tag nicht zu geben.

Die Jugendlichen benötigten diese Chips teils für wichtige Bedürfnisse wie Telefonieren mit Eltern.

Breitung: Zum Beispiel, oder mal eine halbe Stunde Radiohören im eigenen Zimmer.

In ihrem Buch fehlten einem Jungen die Schrankbretter, die er dringend brauchte, um die Kleider ordentlich zu halten. Dafür musste er erst vier Chips verdienen.

Breitung: Stimmt. Die dachten sich da eine ganze Menge Verrücktheiten aus. Die Jungs mussten nachts ihre Klamotten draußen in den Flur legen vor die abgeschlossenen Türen. Als ich als Hospitant morgens einen Jungen weckte, stand der halbnackt im Zimmer. Ich völlig perplex: „Zieh dich doch bitte an.“ Sagt der: „Na, meine Sachen sind doch draußen vor der Tür.“

Wieso war die Zimmertür abgeschlossen?

Breitung: Die Türen waren damals zumindest in der Phase Rot immer abgeschlossen.

Schmitz: Die Jugendlichen mussten, wenn sie ein Anliegen hatten, von innen an ihre Zimmertür klopfen und ihren Namen rufen. Und dann mussten wir, wenn wir es hörten, dahin und nachschauen. Problematisch war, dass bei uns die Toiletten vor den Zimmern waren. Hörte man sie nicht gleich, kamen sie nicht raus.

Als Sie sich bewarben, Herr Breitung, forderte Ihre künftige Vorgesetzte, Sie sollen sich in einer Bibliothek über autoritäre Erziehung informieren. Und Sie dachten, das gibt es gar nicht mehr?

Die drei Heime der Haasenburg GmbH in Brandenburg mit ihren 114 Plätzen wurden bis 2013 von Jugendämtern aus ganz Deutschland belegt.

Nachdem die taz über die dortigen Zustände berichtet hatte, wurde eine Untersuchungskommission eingesetzt. Deren Bericht hatte zur Folge, dass Brandenburgs Jugendministerin Martina Münch (SPD) die Heime schloss.

Per Eilverfahren wehrte sich die Haasenburg GmbH schon damals gegen die Schließung. Das Hauptverfahren beginnt am 23. November vor dem Verwaltungsgericht Cottbus.

Gewinnt die Haasenburg GmbH, könnte sie eine Entschädigung einklagen. Denn statt zu schließen, hätte die Heimaufsicht theoretisch auch Auflagen erteilen können.

Für Ministerin Münch war das damals 2013 keine Option mehr. Die Haasenburg-Heime seien „nicht reformierbar“, ihr Selbstverständnis von „schematischen und drangsalierenden Erziehungsmaßnahmen“ geprägt.

Ehemalige Bewohner wie Renzo M. appellierten an Münchs Nachfolger Steffen Freiberg (SPD), sich auf keinen Vergleich einzulassen. Ihre Anträge auf Opferentschädigung liegen bis zum Ausgang des Prozesses auf Eis.

Breitung: Ja. Ich fand dann aber zwei Diplomarbeiten von jungen Frauen vom Ende der 1990er. Dort war das Frappierende, dass die für autoritäre Erziehung votierten. Eine bezog sich auf die USA, wo die Gefängnisse überfüllt waren. Weshalb man dort vorjuristische Institutionen schuf und junge Menschen nicht in den Knast, sondern in sogenannte Boot-Camps steckte. Boot-Camp heißt Fußtritt-Camp. Und so etwas wurde also hier im Lande übernommen. Man sagte mir dann noch, die Haasenburg sei eine bundesweite Vorzeigeeinrichtung.

Herr Schmitz, Sie hatten ja 2006 an die Heimaufsicht eine Beschwerde geschickt. Sie schrieben damals: „Ein Jugendlicher in der Neuaufnahme erlebt eine Zeit totaler Isolation, massiver Forderungen seitens seiner Betreuer und der Maßgabe unbedingten Gehorsams. Das Motto der ersten Tage ist die totale Unterwerfung.“

Schmitz: Ja. Ich fragte damals unseren pädagogischen Leiter nach dem therapeutischen Ansatz. Er sagte: Stellen Sie sich mal vor, der Jugendliche ist ein Computer, und der läuft nicht mehr rund. Da müssen wir die Festplatte formatieren und spielen das Betriebssystem neu drauf. Den Jugendlichen wurden bei der Neuaufnahme alle persönlichen Sachen abgenommen. Sie wurden in so Schlabberlook verfrachtet und in einen Raum nur mit Matratze gebracht. Dort wurden sie stumpfsinnig beschäftigt. Es ging nur darum: Du musst das machen, und wenn du das nicht machst, dann hast du eine negative Konsequenz.

Zum Beispiel?

Schmitz: Das ging los mit dem Abschreiben der Hausordnung. Man ließ die da so lange sitzen, bis die anfingen. Das dauert manchmal eine Woche. Der musste klopfen, wenn er fertig war mit der ersten Seite. Man musste die korrigieren, und solange auch nur ein einziger Fehler drin war, gab man das zurück und ließ nochmal abschreiben.

Herr Breitung, Sie schrieben über Ihren ersten Tag schon nach acht Stunden, „das ist nicht mein Arbeitsstil“.

Breitung: Es ging damit los, dass ich von der Verwaltung ins „Haus 1“ geschickt wurde. Und ich wollte die Tür aufmachen, die aber war zugeschlossen. Das verstand ich nicht. Nach außen hin wurde ja suggeriert, es sei eine offene Einrichtung. Alles war gepflegt, man hatte einen guten Eindruck. Das Tor war immer offen. Erst wenn man eine Türklinke drückt, kommt man ins Stutzen.

Die Jugendlichen berichteten uns von dem umzäunten Basketballplatz in Neuendorf. Der sei wirklich als Einzäunung benutzt worden.

Breitung: Da war ein eingezäunter kleiner Fußballplatz. Aber das Gelände war offen.

Schmitz: Die konnten dort in Neuendorf auf diesem Basketballfeld an die frische Luft. Das hatten wir in Jessern nicht. Bei uns kamen Jugendliche über Wochen nicht an die frische Luft, weil Personal fehlte, um sie dabei zu begleiten. Die stapelten die Jugendlichen da rein. Es gab noch nicht mal genug Räume. Ein Junge musste drei Wochen im Anti-Aggressions-Raum wohnen.

Der wofür da war?

Schmitz: Das war der Raum, wenn es eskalierte. Das passiert früher oder später, wenn man so arbeitet. Da wurde versucht, mit Maßnahmen die Jugendlichen runterzukochen. „Erkenntnisarbeit leisten“ hieß das auch. „Wir ermöglichen dem Jugendlichen, durch körperliche Ausarbeitung sein Aggressionspotenzial abzubauen.“

Also Strafsport?

Schmitz: Bei Mädchen waren es Kniebeugen. Bei Jungs auch Liegestütze. Meistens Kniebeuge. Vergriff der Jugendliche sich nach Meinung des Erziehers im Ton, dann hieß es: „Kannst gleich mal mit 30 anfangen.“ Mehr mussten die nicht sagen. Und diese Zahlen stapelten sich auf, wenn das nicht reichte, und es eskalierte weiter. Oder es kam tatsächlich zu körperlichen Aggressionen. Dann wurden über Walkie-Talkie drei Kollegen gerufen und auf sie mit Gebrüll, in den Anti-Aggressionsraum. Dort war eine Liege. Am Anfang noch das alte Modell mit Riemen und Schnallen, später mit Magnet-Verschlüssen. Dort mussten die Jugendlichen verbleiben. Laut Protokoll sollten sie zur Besinnung kommen, wieder „ansprechbar“ sein und ihr „selbst und fremdgefährdendes Verhalten“ abstellen.

Sie schrieben, dass Erzieher Kniebeugen mit Gewalt erzwangen.

Schmitz: Ja. Ich habe es gesehen. Der Teamleiter und ein anderer. Der Junge hatte schon 270 Kniebeugen zu machen zu dem Zeitpunkt und wollte noch immer nicht damit anfangen. Die drehten die Arme auf den Rücken, fassten rechts und links an und sagten: „So, du fängst jetzt an.“ Der Junge sagt: „Nein, mache ich nicht.“ Und dann traten sie ihn von hinten in die Kniekehlen, so dass er runtersackte. Dann haben sie ihn hochgerissen und gesagt: „Eins!“

Wann war bei Ihnen der Punkt, zu sagen, ich arbeite da nicht mehr?

Schmitz: Ich hatte im August 2005 angefangen, war da so reingeschlittert und wunderte mich anfangs: Muss das so sein? Man macht sich schlau, spricht mit Kollegen. Die einen sagen so, die anderen so. Ich wandte mich an die Vorgesetzten, wollte Antworten auf meine Fragen. Die versuchten mich unter Druck zu setzen und in die Ecke zu stellen. In letzter Konsequenz stellte ich ein Ultimatum für ein Gespräch mit der Leitung. Das bekam ich nicht. Dann kündigte ich und informierte die Heimaufsicht. Das dauerte so fünf, sechs Monate.

Breitung: Ich war kurz vor Ihnen in Jessern tätig, im Juni 2005. Ich führte damals ein Gespräch mit fünf Kollegen. Die meisten Erzieher waren mit den Methoden nicht einverstanden. Aber dass viele das länger machten, lag an der Arbeitsmarktsituation. 2004 wurden die Hartz-Gesetze eingeführt. Wir hatten Erzieher, die 200 Kilometer entfernt wohnten. Die mussten einfach eine Arbeit finden.

Damit sie nicht unter Hartz IV fallen?

Breitung: Ja, unter die Zumutungen der Hartz-Gesetze. Menschen, die unter Druck sind, tun Dinge, die sie innerlich gar nicht wollen. Eine Kollegin sagte, es mache ihr überhaupt keinen Spaß, hart sein zu müssen. Sie selber sei weich. Das dachte ich von ihr auch. Aber zu einem Jugendlichen sagte sie: „Die Erzieher haben immer das letzte Wort. Haasenburg-Regel.“ Eine andere erklärte, ihr eigenes Tun laufe bei ihr ab wie im Film, sie sei innerlich nicht dabei.

In Ihrem Buch öffnet eine Erzieherin ein Zimmer. Ein Junge ist darin. Der springt auf, stellt sich stramm in den Raum und wartet auf Anweisung. Das musste der wohl so machen?

Breitung: Das ist eine Regel.

„Der Junge ist freundlich. Er fragt: ‚Sind Sie ein neuer Erzieher?‘. Und die Betreuerin sagt: 'Es reicht. Du hast Erwachsenen keine Fragen zu stellen.’“ Als die Tür wieder zu ist, warnt sie Sie. Der Junge könne „bestens täuschen“. Warum sagt sie so etwas Negatives?

Breitung: Das war ihre Legitimation, damit sie überhaupt so autoritär auftreten kann. Die Jugendlichen müssen ja böse sein, damit wir Erzieher die Guten sind. Die Jugendlichen wurden ja von der Polizei eingeliefert. Ich hab gehört, teils sogar in Handschellen. Ein Jugendlicher musste durch ein Spalier von Erziehern ins Haus und wurde wie ein Verbrecher auf die unterste Stufe gestellt. Das war Teil des Konzepts.

Es hieß, es seien besonders schwierige Jugendliche, die keine andere Einrichtung mehr haben wolle.

Schmitz: Kein Zweifel, die brauchten Unterstützung. Aber mein Problem ist die Art und Weise, wie mit ihnen umgegangen wurde. Nämlich, keine positive Alternative aufzubauen, sondern auf brutale Weise das zu löschen, was ist, um dann in irgend so ein funktionierendes Wesen verwandelt zu werden. Das war grotesk.

Die Hasenburg klagt ja nun gegen die Schließung. Die Gesetzeslage ist tatsächlich sehr trägerfreundlich. Motto: Gibt es Probleme, soll die Heimaufsicht ein Heim immer wieder beraten.

Blick auf ein mit Herzchen und einer Sonne bemaltes Fenster

Inzwischen wohnt hier niemand mehr: Haasenburg-Heim in Jessern Foto: Pa­trick Pleul/picture alliance

Schmitz: Die Heimaufsicht bekam ja damals gar nichts mit. Die Türen hinter den Jugendlichen dort mussten immer abgeschlossen sein. Ich kam eines Morgens zum Dienst, da waren die auf. Da hieß es: Heute kommt das Jugendamt. Die sollten von den abgeschlossenen Türen nichts wissen. Wir lasen auch die Briefe an die Eltern. Waren die zu negativ, musste das überarbeitet werden.

Es gibt bisher kaum Ex-Mitarbeiter, die öffentlich reden.

Schmitz: Ich verstehe, wenn Kollegen sagen, ich mach da einen Deckel drauf. Wenn ich anfange, darüber zu reden, mache ich mir ja auch immer wieder bewusst: Ich war selbst ein Teil davon.

Nun findet dieser Prozess statt. Können Sie sich vorstellen, dass die Heimfirma gewinnt, weil sie den Anspruch durchsetzt, dass sie vom Staat noch mal beraten wird, bevor er sie schließt?

Schmitz: Die wussten, was sie tun. Meiner Meinung nach an erster Stelle sehr, sehr viel Geld verdienen auf Kosten derer, die es dringend benötigt hätten für vernünftige Therapiemaßnahmen. Nach meiner Ansicht sollte dieser Träger nie wieder in irgendeinem Bereich der Pädagogik tätig werden.

Breitung: Ich finde es völlig falsch, dass es dieses Verfahren überhaupt gibt.

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