Traumatisierte ehemalige Heimkinder: Opfer sollen warten

Vor zehn Jahren wurden die drei Haasenburg-Heime in Brandenburg geschlossen. Die Entschädigung der betroffenen Kinder verzögert sich weiterhin.

Ein gelbes Schild weist vor dem Gelände darauf hin, hier ist die Haasenburg - Kinder und Jugendzentrum und für Unbefugte Zutritt verboten

Seit 2013 sind die Haasenburg-Heime geschlossen Foto: Klaus-Dietmar Gabbert/picture alliance

BREMEN taz | Kürzlich waren Renzo Martinez und Christina Witt zum Gespräch ins Büro der Bremer Sozialsenatorin Anja Stahmann geladen. Die Grünen-Politikerin entschuldigte sich bei den beiden für das Leid, das sie als Kinder in den Haasenburg-Heimen in Brandenburg erfahren hatten. Damit folgte sie der Forderung eines Antrags von Linken, SPD und Grünen in der Bremischen Bürgerschaft: „Erfahrenes Leid anerkennen – Solidarität mit den geschädigten früheren Heimkindern“.

In diesem Jahr ist es zehn Jahre her, dass die drei Haasenburg-Heime in Brandenburg geschlossen wurden, nachdem eine Untersuchungskommission ihren Bericht vorgelegt hatte. „Das pädagogische Selbstverständnis in den Heimen der Haasenburg war von überzogenen, schematischen und drangsalierenden Erziehungsmaßnahmen geprägt“, sagte die zuständige Brandenburger Jugendministerin Martina Münch (SPD) und entschuldigte sich bei den Kindern und Jugendlichen dafür, dass sie nicht besser geschützt worden waren.

Im Februar 2021 nahm sich der ehemalige Bewohner Jonas L. das Leben. Seine Mutter sagte, die Haasenburg habe ihn psychisch kaputt gemacht. Seither streiten die Betroffenen um eine Entschädigung, denn viele von ihnen sind aufgrund des Erlebten arbeitsunfähig und leben in Armut. Eine von Christina Witt und einer Mitstreiterin gestartete Petition erlangte über 36.000 Unterstützer. „Wir wurden monatelang in unseren Zimmern eingesperrt, ohne Kontakt zu anderen Jugendlichen. Wir wurden vor Er­zie­he­rn bloßgestellt“, schrieben sie. „Es gab Prellungen, Brüche und vor allem psychische Verletzungen.“ Doch man habe die Betroffenen mit den Schäden alleingelassen.

Brandenburgs gerade zurückgetretene Jugendministerin Britta Ernst (SPD) sprach nicht persönlich mit Witt. Stattdessen hielt sie es für eine gute Idee, sie an das bestehende „Opferentschädigungsgesetz“ für Gewaltopfer zu verweisen. Nötige Hilfe bei der Antragstellung könnten die Versorgungsämter leisten. Die Kollegen dort seien „geübt“, deshalb seien dort „auch die Betroffenen der Haasenburg sehr gut aufgehoben“, schrieb Ernsts Mitarbeiterin an Christina Witt.

Mit Gurten fixiert

Woraufhin Witt und Martinez, die beide in Bremen wohnen, beim dortigen Amt einen solchen Antrag stellten. Martinez beschreibt darin, dass er auch körperliche Gewalt erfuhr, zum Sport gezwungen und mit Gurten fixiert wurde. Er benannte zehn Zeugen und legte Gutachten vor, dass er an einer Belastungsstörung leidet, die auf traumatische Erlebnisse schließen lässt. „Ich bin heute in Behandlung wegen ‚weißer Folter‘ vom Schweregrad eines Kriegsgefangenen“, schreibt er ans Amt.

Doch bis heute – da ist Martinez sicher – wurde keiner der Zeugen vom Bremer Versorgungsamt kontaktiert. Denn Witts und Martinez’ Anträge liegen quasi auf Eis. Sie würden bearbeitet, wenn „das noch laufende Gerichtsverfahren zur Schließung der Haasenburg GmbH“ beendet sei, schrieb ihnen das Amt im letzten Oktober.

Auch bei besagtem Gespräch am 17. März mit Sozialsenatorin Stahmann war Entschädigung ein Thema. Leider habe sich Bremen auf Länderebene nicht mit der Idee eines Entschädigungsfonds durchsetzen können, erfuhren die beiden. Ein Mitarbeiter sagte ihnen, beim Antrag auf Opferentschädigung sei das Problem, dass man ja eine Form des Nachweises brauche, die gerichtliche Entscheidung, die diesen Nachweis erbringen könne, aber noch bevorstünde.

Es geht um ein Verfahren beim Verwaltungsgericht Cottbus, in dem entschieden werden soll, ob das Brandenburger Jugendministerium der Haasenburg GmbH zu Recht die Erlaubnis entzog, diese Heime zu betreiben. Die taz fragt immer mal wieder nach dem Prozesstermin. Jüngste Auskunft vom 28. März 2023: „Es ist nicht absehbar, wann die Sache terminiert wird.“

In der Sackgasse

Wurden also die Betroffenen von Britta Ernst in eine Art Sackgasse ­gelotst? Statt weiter mit politischen ­Petitionen für ihre Ansprüche zu ­streiten, sollen sie nun auf den Abschluss eines Verfahrens warten, beim dem sie als Opfer weder eine Stimme, noch eine Rolle oder gar eine Vertretung haben.

Dass es auch anders ginge, zeigte bei der Bremer Debatte ein Antrag der CDU-Fraktion. Die forderte, den Bremer Opfern eine Entschädigung aus Landesmitteln zu zahlen, die die Menschen nach den vielen Jahren „schnell und unbürokratisch“ erreicht.

Ohnehin erscheint dieses Haasenburg-Verfahren seltsam. Ursprünglich sollte der öffentliche Termin am 23. November 2017 stattfinden, wurde aber kurz vorher abgesagt. Nach Auskunft von Jugendhilferechtsexperten werden solche Verfahren „selten durch eine förmliche Gerichtsentscheidung beendet“. Doch eine außergerichtliche Einigung, wie in solchen Fällen möglich, hat es laut Ernsts Ministerium bis dato nicht gegeben.

Liest man die bisherigen Gerichtsbeschlüsse in dieser Sache, scheint es hier so viele Fragezeichen nicht zu geben. Der 30-seitige Bescheid, mit dem das Landesjugendamt Brandenburg im Dezember 2013 die Betriebserlaubnis widerrief, wirkt fundiert und nennt eine Reihe von Gründen. In allen drei Heimen stellten vor allem körperliche Zwangsmaßnahmen, „Antiaggres­sions­maßnahmen“ genannt, eine „erhebliche Gefahr für das körperliche, geistige und seelische Wohl der Jugendlichen“ dar. Diese hätten phasenweise bei einigen Jugendlichen als „eine Art Standardprogramm“ stattgefunden. Die Entgegnung der Heimfirma, die Maßnahmen nur selten und so respektvoll und empathisch wie möglich durchgeführt zu haben, überzeugte die Richter am Verwaltungsgericht Cottbus im anschließenden Eilverfahren nicht, da dieser Behauptung „schon die von ihr selbst zitierten Beispielfälle widersprechen“.

Vehement vertreten

Das Verwaltungsgericht entschied am 13. Januar 2014, die Klage der Heimfirma gegen die Schließung abzuweisen. Allein dafür arbeiteten die Richter 24 Bände durch und lieferten eine 14-seitige Begründung. Laut damaligem Jugendhilfegesetz war der Entzug der Betriebserlaubnis nur zulässig, wenn der Träger des Heims „nicht bereit oder nicht in der Lage ist, die Gefährdung abzuwenden“. Das traf nach Einschätzung der Richter zu, da der Träger seine Konzeption nach wie vor vehement vertreten und die erhobenen Vorwürfe „bagatellisiert“ habe. Das anschließend befasste Oberverwaltungsgericht versuchte einen Vergleich, entschied aber am 15. Mai 2014, dass die Heime dicht bleiben.

Dieser Text stammt aus der wochentaz. Unserer Wochenzeitung von links! In der wochentaz geht es jede Woche um die Welt, wie sie ist – und wie sie sein könnte. Eine linke Wochenzeitung mit Stimme, Haltung und dem besonderen taz-Blick auf die Welt. Jeden Samstag neu am Kiosk und natürlich im Abo.

So lange schon steht nun besagtes „Hauptsacheverfahren“ an. Warum, vermag keiner zu erklären. Just am 27. März 2023, als die taz wieder mal nachfragte, wurde laut dem Sprecher des Gerichts in Cottbus die Zuständigkeit einem anderen Richter übertragen: „Wir hoffen, dass es forciert wird.“

Soll also ein Verfahren, in dem es um das Recht auf Berufsfreiheit geht und darum, ob der Anbieter sich nicht hätte verbessern können, dafür ausschlaggebend sein, dass die jungen Menschen entschädigt werden, die dort leben mussten?

Bernd Schneider, der Sprecher der Bremer Sozialsenatorin, sagt dazu, es gehe „generell um die Frage, ob es zu Übergriffen gekommen ist. Wir erwarten nicht, dass es personengenau festgestellt wird. Aber dass festgestellt wird, was da los war.“ Das könne sich zugunsten der Antragstellenden auswirken.

Doch egal, welche Erkenntnisse noch von dem Cottbusser Gericht zu erwarten sind: Für die psychische Gewalt, die die Heimkinder erfahren haben, sei das Opferschutzgesetz sowieso nicht zuständig, heißt es in dem Beschluss der Bremischen Bürgerschaft. Es gebe eine „Schutzlücke“ für die Jahre nach 1975. Entschädigung für psychische Gewalt sei erst für Fälle nach 2024 vorgesehen. Bremen solle sich deshalb für einen Fonds einsetzen.

Renzo Martinez, ehemaliges Haasenburg-Kind

„Es ist für uns wichtig, mit der Sache abzuschließen“

Man sei in dieser Sache im Gespräch mit anderen Ländern wie Brandenburg, sagt Sozialbehörden-Sprecher Schneider. Diese stünden allerdings auf dem Standpunkt, das Verfahren abzuwarten. Aus Bremer Sicht sei das „auf Dauer angesichts der inzwischen sehr langen Verfahrensdauer äußerst unglücklich“. Sollte absehbar sein, dass es keine Gerichtsentscheidung gibt, werde über die Entschädigungsanträge auf Grundlage vorliegender Erkenntnisse entschieden.

Renzo Martinez sagt dazu, er verstehe nicht, warum nicht wenigstens seine Zeugen gehört werden. „Es ist für uns wichtig, mit der Sache abzuschließen.“

Einmal zahlen
.

Fehler auf taz.de entdeckt?

Wir freuen uns über eine Mail an fehlerhinweis@taz.de!

Inhaltliches Feedback?

Gerne als Leser*innenkommentar unter dem Text auf taz.de oder über das Kontaktformular.

Dieser Artikel stammt aus dem stadtland-Teil der taz am Wochenende, der maßgeblich von den Lokalredaktionen der taz in Berlin, Hamburg und Bremen verantwortet wird.

Bitte registrieren Sie sich und halten Sie sich an unsere Netiquette.

Haben Sie Probleme beim Kommentieren oder Registrieren?

Dann mailen Sie uns bitte an kommune@taz.de.